Alan N. Shapiro, Hypermodernism, Hyperreality, Posthumanism

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Was habe ich über Medientheorie gelernt?, von Vivianne Pärli

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Grundsätzlich: dass es zu Gedanken, die mir beim Beobachten meines Umfeldes, meiner Umgebung in den letzten Jahren gekommen sind, detaillierte Ausführungen gibt. Ich habe es als sehr beruhigend emfunden, dass sich in den Diskussionen abgezeichnet hat, dass ich nicht allein dastehe mit meiner Sicht auf die Welt, auf die globalisierte, kommunikative Welt.

Um ein erstes Beispiel zu geben: in der ersten Vorlesung erwähnte Alan Shapiro, dass Amazon zwischen Ebook und Buch nicht differenziert. Amazon kennt keine Medientheorie. McLuhans „the medium is the message” kommt mir in den Sinn- die Übertragungsform prägt den kommunizierten Inhalt. Schon vor Jahren hat es mir Sorge bereitet wenn ich mir vorgestellt habe, dass eines Tages eine Generation ohne Bücher aufwachsen wird – stattdessen werden sie mit „Tablets” lernen.

In einer der Diskussionen im Anschluss an die Vorlesung hat ein Kommilitione erzählt, dass in Finnland Schulen ohne Bücher existieren. Eine der -für mich- erschreckendsten Zukunftsvisionen in Bezug auf den Umgang mit den neuen Medien ist längst Realität geworden.

Durch die technischen Veränderungen hat sich nicht nur das Lesen, sonder auch das Schreiben verändert. Die Aufmerksamkeitsspanne hat sich verkürzt, und es gibt Stimmen die argumentieren: „okay, die Kinder von heute können sich weniger lang auf Texte konzentrieren und weniger gut schreiben als noch vor einigen Jahren, aber sie können es auf drei verschiedenen Sprachen, da fragt man sich, Fortschritt oder Rückstritt,? Es gibt immer mehrere Betrachtungspunkte.”.

Sherry Turkle schreibt in Ihrem Buch “Alone Together” dazu: „Educators were quick to extol the virtues of doing many things at once: it was how the future wanted us to think. Now we know that multitasking degrades performance on everything we try to accomplish.”1.

Für mich stellt sich die Frage ob Fortschritt oder Rückschritt nicht, sondern ist eindeutig zu beantworten: so, wie die Menschen und vor allem die jungen Menschen die technischen “gadgets” benutzen entfremden wir uns mehr und mehr von einander und von uns selbst. Die Menschen verstecken sich hinter ihren Geräten, die Kunst der Konversation sehe ich wie Sherry Turkle in Gefahr.

Ich versuche dem entgegenzuwirken, mit lauter kleinen Dingen jeden Tag. Mal beginne ich ein Gespräch mit einem Menschen, der mit mir an der Bushaltestelle wartet. Ich habe seit einem Jahr kein Facebook mehr. Mal versuche ich, Menschen die mir begegnen anzulächeln – wobei dabei meistens ein leicht verstörter Blick erwidert wird.

Ich muss an eine Stelle in “Matrix Reloaded” denken:

Neo, Morpheus und Trinity gehen zum Merowinger um den Schlüssermacher zu finden. Und der Merowinger führt aus: „es gibt nur eine Konstante, eine Universalität, es ist die einzige echte Wahrheit. Kausalität. Aktion, Reaktion. Ursache und Wirkung. Entscheidung ist eine Illusion, entstanden zwischen den Dingen mit Macht, und denen ohne.”

Vielleicht wirkt dieser Vergleich etwas weit hergeholt, doch ich kann die Verbindung deutlich sehen.

Eine der Ursachen, weshalb die Kinder und Jugendlichen von heute so süchtig nach den Geräten, die ihnen mit ihrer Software ein Gefühl von “community” suggerieren, ist die fehlende Aufmerksamkeit. Ihre Eltern schenken ihnen nicht die Aufmerksamkeit, die sie benötigen. Dazu aus Turkle’s “Alone Together”: „From the youngest ages, these teenagers have associated technology with shared attention. Phones, before they become an essential element in a child’s own life, were competition, one that children didn’t necessarily feel they could best.”2.

Auch passt Alan Shapiros Definition von Sucht zu den Ausführungen des Merowingers: die Sucht bedeutet den Verlust der Freiheit zu Wählen.

Gemeinsam mit der Gleichzeitigkeit, mit der die Menschen Dinge tun – teilweise vom Job so gefordert, teilweise im Privatleben aus freien Stücken- stellt die Sucht aus meiner Sicht das größte Hindernis dar, um das reale Leben durch die Technik zu bereichern. Bewusstsein zu schaffen wäre ein erster Schritt.

Allerdings ist es in der Psychotherapie eine weit verbreitete Meinung, dass sich das Krankheitsbild eines Suchtkranken wie folgt darstellt: die Krankeheit ist die Sucht und die einzige Medizin ist die Abstinenz. Auf einer anderen Ebene lässt sich sagen, dass uns Menschen langsam aber sicher die Entscheidung abgenommen wird, ob wir unser Leben online leben und unsere Daten preisgeben oder nicht. Eine Illusion der Entscheidung – entstanden zwischen den Dingen mit Macht, und denen ohne.

Doch den meisten Menschen kommt es garnicht so vor. Sie “embracen” jede technische Neuheit. „Wir teilen unsere Geheimnisse, hinterlassen überall Big-Data-Spuren, wissentlich. Laden Apps herunter, winken AGBs durch […].3”, lassen Geräte unseren Herzschlag messen, unsere Schritte zählen, nur damit uns unser “Leben” bleibt.

Hier sehe ich die Gefahr, dass es zu spät sein wird zu einem “normalen” Miteinander zurückzukehren, sollten die Menschen es eines Tages verstehen. Sherry Turkle schreibt hierzu: „It is, of course, tempting to talk about all of this in terms of addiction.[…]The addiction metaphor fits a common experience: the more time spent online, the more one wants to spend time online. But however apt the metaphor, we can ill afford the luxury of using it. Talking about addiction subverts our best thinking because it suggests that if there are problems, there is only one solution. To combat addiciton, you have to discard the addicting substance. But we are not going to “get rid” of the Internet. We will not go “cold turkey” or forbid cell phones to our children. […] I believe we will find new paths toward each other, but considering ourselves victims of a bad substance is not a good first step. The idea of addiction, with its one solution we know we won’t take, makes us feel hopeless. We have to find a way to live with seductive technology and make it work to our purposes. This is hard and will take work. Simple love of technology is not going to help. Nor is a Luddite impulse.”4.

Ich verstehe Turkles Ansatz, dass sich Hoffnungslosigkeit einstellt, wenn man die heutige Situation mit der Metapher der Sucht betrachtet. Doch bezweifle ich -momentan- einen positiven Verlauf dieser Entwicklung.

Hierzu noch ein Auszug aus “Alone Together”: „Some would say that we have already completed a forbidden experiment, using ourselves as subjects with no controls, and the unhappy findings are in: we are connected as we’ve never been connected before, and we seem to have damaged ourselves in the process. A 2010 analysis of data from over fourteen thousand college students over the past thirty years shows that since the year 2000, young people have reported a dramatic decline in interest in other people. Today’s college students are, for example far less likely to say it is valuable to try to put oneself in the place of others or try to understand their feelings. The authors of this study associate students’ lack of empathy with the availability of online games and social networking.“5.

Ich glaube, dass die Dinge, die sich im Kleinen, Mikrokosmos abspielen, synchron mit Dingen im Großen, Makrokosmos sind. Ich meine nicht, dass Eins zu Eins das Gleiche passiert, es sind unsichtbare Dinge, Energien.

Deswegen macht es in meinen Augen auch Sinn, dass sich der einzelne Mensch mehr und mehr zu einem zu narzisstischen und egoistischen Zügen neigenden Wesen mit wenig Moral entwickelt, während die großen Konzerne unsere Welt regieren, mit nichts als Profit im Sinn.

Ein weiterer Gedanke, der im Seminar aufgegriffen wurde ist die Auflösung der kulturellen Identität der einzelnen Länder. Im Zuge der Amerikanisierung geben die Europäer gerne ihre Identität auf. Wenn es allerdings überall nur noch Malls, gefüllt mit den ewig gleichen Geschäften gibt, wird es zu spät sein um umzukehren.

Es scheint sehr passend, dass die Menschen in einer globalisierten Welt, in der alles in jedem Land angeglichen wird (überall die gleichen Geschäfte, die gleichen elektronischen Geräte die alle nutzen, die gleichen Filme und TV- Shows etc.) den großen Drang verspüren sich zu individualisieren, darzustellen wie besonders sie sind. Diese Individualisierung geschieht häufig auf social media Kanälen wie Instagram und Facebook, und doch letzlich tun auch dort alle das Gleiche. Das, was die Menschen tatsächlich voneinander unterscheidet, ihre Menschlichkeit, ihre Persönlichkeit und Art, ihrem Gegenüber zu begegnen, findet aber keine Darstellungsform in der digitalen Welt.

Eine Vielzahl von Menschen ist – so wie sie nach Selbstdarstellung, dem Teilen ihrer Erlebnisse süchtig ist, auch süchtig nach Unterhaltung.

Dort kann man auch eine Parallele zur Kultur ziehen: die Literatur verkörpert den Intellekt, die Hollywoodmaschienerie das Entertainement, die Unterhaltung. Alan Shapiro sagte so treffend: ein Film nimmt ein Stück weit die Individualität oder auch Phantasie der Menschen. Bei einem Roman, den 1000 Menschen lesen gibt es 1000 Versionen des Romans. Aber es gibt nur einen Film.

Ich kann Alan Shapiro nur zustimmen, wenn er sagt es gäbe keine großen Denker mehr. Vermutlich sind die Menschen (durch die Technik?) zu faul geworden, zu abgelenkt, und zu süchtig um noch Zeit zur Reflexion zu finden. Sherry Turkle zitiert Donna Haraway: „To make more time to think would mean turning off our phones. But this is not a simple proposition since our devices are ever more closely coupled to our sense of our bodies and minds.”6.

Ebenso wenig wie eine Lösung zum Umgang mit der Technik von heute scheint es einen Ausweg aus der Postmoderne, der Konsumgesellschaft zu geben. Es wird theoretisch gesagt, man “müsse nur einen Weg finden, die neuen Umstände und Möglichkeiten zum Positiven zu nutzen” doch genau da kann ich nicht zustimmen. Das, was die Menschen drohen zu verlieren – das Menschliche- ist mit einer Technik, die Suchtpotetial in sich trägt und kontrolliert wird von Kooperationen, die profitorientiert handeln, auf Dauer nur schwierig beizubehalten. Dazu Marx: die Entfremdung vom Naturzustand des Menschen durch den Kapitalismus als Wirtschaftssystem.

Ich möchte auch Jean Baudrillards “Agonie des Realen” nicht unerwähnt lassen. Als ich vor 5 Jahren begonnen habe, mich etwas mit der Welt und den weitläufigen Zusammenhängen zwischen Religion, Wirtschaft und Politik zu beschäftigen bin ich auf das Buch “die Kreatur von Jekyll Island” gestoßen, welches 1994 erstmals veröffentlicht wurde. Beschrieben wird die Gründung des Federal Reserve Systems 1913. Nach ca. 1/4 des Buches habe ich es geschlossen und nie wieder geöffnet. Ich habe mir gedacht: die ultimative Wahrheit werde ich nie erfahren. Die eine, ultimative Wahrheit werden immer nur die Menschen kennen, die zum Zeitpunkt eines Ereignisses vor Ort waren und diese Wahrheit “gemacht” haben.

Als ich Baudrillards “Agonie des Realen” las, habe ich diesen Gedanken in seinen Worten wiedererkannt: „handelt es sich bei den Sprengstoffanschlägen in Italien um Taten linker Extremisten oder um eine Provokation der extremen Rechten oder um eine von der Mitte ausgehende Inszenierung mit der Absicht, alle Extremisten in Verruf zu bringen, um damit die eigene angeschlagene Macht wiederzuerlangen, oder handelt es sich um ein Scenario der Polizei und um eine Erpressung der öffentlichen Sicherheit? All das ist gleichzeitig wahr und die Suche nach Beweisen zur Ermittlung der objektiven Tatsachen hält diesen Interpretationsschwindel nicht auf. Wir befinden uns in einer Logik der Simulation, die nichts mehr mit einer Logik der Tatsachen und einer Ordnung von Vernunftgründen gemein hat. […]

Alle Interpretationen sind wahr; ihre Wahrheit besteht darin, sich in einem erweiterten Kreislauf auszutauschen, und zwar nach Maßgabe von Modellen, denen sie selbst vorgeordnet sind.”7.

Leider sind genau diese Gedanken in den Tagen seit Freitag, 13.11.15 wieder aktuell geworden. Es ist schwierig, sich ein Bild zu machen, von dem was in Paris geschehen ist. Mit Baudrillards Worten im Kopf fällt es mir schwer, zu “glauben” was durch die Massenmedien kommuniziert wird. Stattdessen frage ich mich eher, wer davon profitiert.

Es tut mir leid, falls dieser Text zu unübersichtlich geworden ist, doch die Aufgabe war es, in Worte zu fassen, was ich gelernt habe, und da kann ich mich leider nicht auf nur einen der vielen Aspekte beziehen.

Ich bewundere Deine Fähigkeit, Alan, das große Ganze zu sehen und es mit Deinen Worten auch noch greifbar zu machen, verständlich und fassbar.

Nachdem ich in Zielinksis “Nach den Medien” folgendes gelesen habe, scheint es mir aber auch absurd, überhaupt versuchen zu wollen, eine Trennung herbeizuführen, Dinge und die Welt, die uns umgibt, getrennt zu betrachten: “Erwin Schrödinger […] geht der Frage nach, wie die Welt gedacht worden war, bevor die großen Trennungen vollzogen wurden, die das moderne Weltbild bestimmen: die Trennungen von Subjekt und Objekt, von Geist und Materie, von Wahrem und Falschem.”8.

1 Sherry Turkle Alone Together S. 242 (2011 Basic Books)

2 Ebd. S.267

3 Ralf Heimann “Ruf mich ab!” in Wired Magazin 10.2015 (S.64)

4 Sherry Turkle Alone Together S. 242 (2011 Basic Books)

5 Ebd. S. 293

6 Donna Haraway, “A Cyborg Manifesto”, in Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature
(New York; Routledge, 1991), S.149-181

7 Jean Baudrillard Agonie des Realen (S.30-31)

8 Siegfried Zielinski, Nach den Medien, S. 34 (2011 Merve Verlag Berlin

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