Alan N. Shapiro, Hypermodernism, Hyperreality, Posthumanism

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Baudrillard und Trump: Simulation und Objektorientierung, nicht wahr und falsch, von Alan N. Shapiro

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Deutsche Übersetzung: Arno Baumgärtel

Ich fühle mich sehr privilegiert, dass mein Essay über Baudrillards erstaunliches Buch Amerika gemeinsam mit Gerry Coulters Essay über Amerika 2009 im International Journal of Baudrillard Studies (IJBS), Ausgabe 6/1, erschienen ist. Ich habe Gerrys Essay noch einmal gelesen. Ganz gewiss ist dieser Text äußerst hilfreich beim Nachdenken über das gegenwärtige Phänomen Donald Trump, um die Emanation Trumps als “sozialer Tatbestand” (Marcel Mauss) im kulturellen Zusammenhang dessen zu sehen, was Gerry die “ungeheure Fiktion” nennt: (die Vereinigten Staaten von) Amerika. Meine Baudrillardsche Lesart des später gewählten Präsidenten Trump begann im Februar 2016 in einem Essay mit dem Titel “Casinobesitzer Donald Trump: zum Verlieren verführt durch die Verlockung zu Gewinnen.” Ich zog die Parallele zwischen einem Glücksspieler in einem Casino in Atlantic City in den 1980er Jahren und den Unterstützern von Trumps Präsidentschaftskampagne 2016. Ich schrieb: “Die Glücksspieler lassen sich durch das Versprechen und die Aussicht auf leicht verdientes Geld ins Casino locken.” Und: “Man sagt ihnen, sie hätten gute Gewinnchancen. In Wahrheit aber denkt das Casino nur an sich selbst. Fast hundert Prozent der Spieler verliert. Sie werden ausgenommen und gehen mit weniger als nichts davon.”

Leider jedoch – mea culpa – bin ich seit letztem Februar herumgeirrt und habe mich von dem löblichen Projekt, Mister Trump im Sinne Baudrillards zu verstehen, entfernt. Stattdessen bin ich zu sehr unter den Einfluss der Huffington-Post-Diktion geraten, Trump als Faschist zu sehen (dank an meinen Freund Tom Moody, der mir die Augen dafür geöffnet hat). Das soll nicht bedeuten, dass  Trump keine autoritären Ambitionen hätte. Allerdings glaube ich, dass der theoretische Nährwert größer ist, wenn man den Schwerpunkt auf Simulacra, Simulation, Virtualität, Hyperrealität, Objektorientierung, Reality-TV (mit Baudrillard gesprochen: “Telemorphose”), den Twitter-“Jargon der Eigentlichkeit” (Th.W. Adorno) und umgehendes Vergessen legt und auf die Irrungen und Wirrungen des künstlichen Lebens von Amerika, verschlungen in Reality-Fiction und Umkehrströmungen. Was wir brauchen, sind Analysen auf der Basis einer Baudrillardschen und softwarebasierten Medientheorie.

In der Washington Post vom 2. Januar 2017 ist ein Beitrag von Greg Sargent mit dem Titel “Ja, Donald Trump ‘lügt.’ Eine ganze Menge. Und Nachrichteninstitutionen sollten das auch sagen.” Dieser Artikel ist typisch für die Herangehensweise des “liberalen Establishments” insgesamt gegenüber Trump. Während des Wahlkampfs haben Journalisten und Kommentatoren ständig darauf hingewiesen, dass Trump ein Lügner ist, ein Schlangenölverkäufer usw. (dazu die brilliante Kurzgeschichte von Philip K. Dick “Lies Inc.” All das mag tatächlich wahr sein, es hinterlässt jedoch nicht den Hauch eines Eindrucks bei seinen Anhängern. Überall in seinen Arbeiten kommentiert Baudrillard den Unterschied zwischen dem Diskurs der Kritischen Theorie (liberale Journalisten wie Sargent sind, was Trump betrifft, darin stecken geblieben) und dem, was er selbst als “fatale Theorie” bezeichnet. Der Diskurs der Kritischen Theorie ist nicht brauchbar. Trump ist der Kandidat des Reality-Fernsehens, der Prominentenkultur, der Medienhyperrealitätsunterhaltung, jener 15 Minuten Ruhm für jedermann (Warhol), des “Transpolitischen” (Baudrillard) und der Objektorientierung (OO).

OO: Trump wird die Präsidentschaft sein, nicht der Präsident – Ende des Unterschieds zwischen handelndem Menschen und Amt. Trump ist die Frauenfeindlichkeit in Person, kein Frauenfeind, er ist Rassismus, kein Rassist. Trump hasst niemanden [“niemand liebt die Gruppe X mehr als ich”], er assoziiert sich  selber einfach rhetorisch mit dem sozialpsychologischen Objekt namens Hass. Jenseits der Erkenntnistheorie über den Menschen identifiziert sich Trump mit allen bildlichen oder mentalen Vorstellungs”objekten”, wie es gerade erforderlich ist, stellt er doch die “Kunst des Handelns” und die Praxis des Gewinnens in immer größeren Arenen dar.

Trump identifiziert sich mit dem politisch-wissenschaftlichen Objekt, dem historisch schwelenden China-Taiwan-Konflikt (und provoziert dessen Erwachen). China und Taiwan, die “sozialen Akteure” (Bruno Latour), sind dabei egal.

Mit anderen Worten, Trump ist der Kandidat im Zeitalter der Simulation. “Die Wahrheit” gegen ihn ins Feld zu führen, funktioniert da als Strategie nicht. Trump ist dem Wahrheitsdiskurs weit voraus. Wir befinden uns in der Hyperrealität, in der es kein wahr und kein falsch mehr gibt. Carl “The Truth” Williams, früherer Boxweltmeister im Schwergewicht, ist im April 2013 gestorben.

Alan Cholodenko kommentiert: Wenn die Hyperrealität, wie für Baudrillard, etwa während oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, dann hat es bereits einige Simulationspräsidenten gegeben: JFK, der erste Fernsehpräsident; Reagan, Hollywoodschauspieler und der erste Fernsehshowmoderatorenpräsident (“General Electric Theater”, 1953 – 1962). In diese Reihe gehört auch Trump. Er ist der zweite Fernsehshowmoderatorenpräsident (“The Apprentice”), der erste Live-Show, Reality-TV-Show-, Vorstandsmoderatorenpräsident der Reality-TV-Show namens America Inc.

Der Fehler der meisten Journalisten und Redakteure wie Greg Sargent von der Washington Post ist, dass sie nicht verstehen, dass das System von “Wahrheit und Lüge” keine ewige, ahistorische oder “wissenschaftlich-objektive” Realität ist. Dass es sich um einen historisch entstandenen kulturellen Diskurs oder um eine Konvention einer zeitlich beendeten Epoche handelt. Foucault würde wahrscheinlich sagen, das Problem von “wahr” und “falsch” ist das der epistème – ein erkenntnistheoretisches Apriori, Ausdruck einer spezifischen Konstellation von Machtwissen innerhalb eines Zeitalters – dessen Zeit jetzt abgelaufen ist. Der beharrliche Glaube an “Wahrheit” und “Lüge” liegt bereits Platos Metaphysik des menschlichen Subjekts zugrunde, die subjektzentrierte Sicht der Welt. das souveräne (demokratische oder wissenschaftliche) “wissende” und urteilsfähige Subjekt, das imstande ist festzustellen, wann “Wissen” und “Fakten” falsch sind.

In dem neuen epistemologischen System jenseits von “Wahrheit” und “Lüge”, auf das Trump sich eingestellt hat und dessen Meister er ist, ist, was Liberale nicht verstehen, das Objekt selbst der heiße Preis. Der Fokus liegt auf dem Objekt (als Vorstellung, nicht physisch), eine Beziehung, eine Assoziation, das nichts darüber weiß, ob etwas real oder falsch ist. Sie gehen über wahr und falsch hinweg und überdehnen sie. “Die Dinge haben, weil sie anfing, Langweile zu verbreiten, einen Weg ohne die Dialektik der Bedeutung gefunden: durch unaufhörliches Wuchern, ihr Potenzial vergrößernd, aufsteigend bis an die Grenzen sich selbst zu übertrumpfen, in einer Obszönität, die zu ihrer immanenten Bestimmung wurde und zu ihrer sinnlosen Begründung” (Baudrillard, Fatal Strategies). Wenn Trump etwas sagt, ist es wahr, weil Trump es sagt, und weder die New York Times noch die Washington Post können etwas dagegen tun. Trump passt sich von Tag zu Tag neu an, egal bei welchem Thema. Die liberalen Medien “beweisen, dass er unrecht hat”. Das jedoch hat auf und für die “schweigende Mehrheit” halb Amerikas genau den gegenteiligen Effekt – für die sind sie die Lügner. Die institutionelle Basis dessen, was Konsens und Legitimation “der Wahrheit” bedeutet hat, ist unter Bergen von Informationen, der Virtualisierung, Delokalisierung, Dephysikalisierung und Entkörperlichung des Diskurses verschwunden. Wann ist das geschehen (wann war der “Canetti-Punkt erreicht)? Unmöglich zu sagen. Diesen Ursprung zu kennen, würde bedeuten, die Ansprüche an das Wissen überzubewerten, man würde die methodologische Rekursivität unserer Wahrnehmung verletzen, dass wir uns in der Kultur der Simulation verirrt haben (wie uns Baudrillard in seinen faszinierenden und umfangreichen Diskussionen um den “Canetti-Punkt” gelehrt hat und ebenso Gerry Coulter, zum Beispiel in seinem Essay “America”).

Als Trump sagte, dass am 11.9. tausend Muslime in Jersey City, New Jersey, auf den Dächern tanzen würden, hatte er recht. Hundert Prozent recht, wie er später twitterte. Gemäß der humanistisch-demokratischen Subjekt-Erkenntnistheorie und der Wahrheit hat die Aktion auf den Dächern “nicht stattgefunden.” In der hypermodernistischen Erkenntnistheorie allerdings befördert die rhetorische und emotionale Macht des Wortes und der mentalen Bilder, wie Trump sie hervorruft, das Gewicht und die Dynamik des in Bilder versunkenen “Objekts” jenseits der Fantastik: die bösen, feiernden Moslems. Wahrscheinlich hat Trump solche zynischen Feiern in Palästina im September 2001 im Fernsehen gesehen, und die heimliche Wurmlochverbindung zwischen physisch im Raum voneinander getrennten Punkten besteht noch immer, ganz klar. Innerhalb der Kultur virtueller Bilder ist es durchaus in Ordnung, wenn man Sympathisanten von Bin Laden vom einen geografischen Ort zum anderen verlagert. Der Hyperraum von Trumps kreativer Erinnerung verschmolz auf der Innenseite des Flachbildschirms mit dem hyperdimensionalen expandierenden Raum des Fernsehens.

In einer realen Welt ist Fantasie möglich. Man könnte sagen, sie ist nicht wirklich, eine Art Illusion (im Nicht-Baudrillardschen Sinn) oder Täuschung. Wenn aber die Bilder überall sind und untereinander universal austauschbar, werden die selbstgemachten mentalen Bilder hyper-real. Was nunmehr (wörtlich) bedeutet (hyper-bedeutet): echter als echt. Aus Bedeutung wird Hyper-Bedeutung.

Aber vergrößert nicht die Allgegenwart von Videodokumentationen und Aufnahmetechniken aller Art auch die Verfügbarkeit von Wahrheit? Indem man mit der Kamera herumgeigt und aus jedem Winkel heraus erstaunt aussieht? Nein, das Gegenteil geschieht. Wenn das Dokumentarische und Aufnahmen überall sind, sind sie nirgendwo mehr. Streng genommen hören sie auf zu existieren, sie erfüllen keinen Zweck mehr. Im schlechten Sinn werden sie zu Technikfetischen und sind gerade durch ihr Übermaß abgekoppelt von dem, was sie eigentlich hervorheben oder erfinden sollten. Als linksradikaler und Mainstream-Hybride glaube ich, dass Überwachung etwas Gutes ist, nämlich als Abschreckung gegen Verbrechen. Aber wenn es überall Überwachung gibt, funktioniert diese gute Seite daran nicht mehr. Dieselbe paradoxe Logik ist bei allen virtuellen und digitalen Medien am Werk. Natürlich stehen uns all diese wunderbaren Sachen zur Verfügung. Doch wir haben einen Schritt ausgelassen, nämlich den, über das passende Maß ihrer Anwendung nachzudenken. Wir haben vergessen, es nach menschlichen Kategorien zu bewerten. Auf beide Weisen: posthumanistisch und humanistisch. Wir haben Albert Camus großartigen Gedanken, dass wir auf fast jedem Gebiet ein Gespür für Grenzen brauchen, nie ernst genommen (wie Dominick LaCapra betont hat). Akademische Referenzialität – gegen die Baudrillard sich gewehrt hat – funktioniert genau so. Übertreibt man es, verliert man sich in Fußnoten, begibt man sich in den Zwielichtbereich* der Hyper-Referenzialität und der ganze Apparat bricht zusammen. Man tut es, weil man muss und der ursprüngliche Zweck ist verloren.

Es liegt nun an uns, den “Beweis” (ha, ha!) zu führen, dass Baudrillard völlig recht hatte. Wir sind inzwischen vollständig im Zeitalter der Simulation und der Telemorphose, der Neuen Wahrheit des omnipräsenten Bildes (sowohl des Bild-Bildes wie des Wort-Bildes). Die Neue Wahrheit ist keine Lüge – das wäre viel zu einfach, die Behauptung ist rückwärtsgewandt.  Die Neue Wahrheit begrünet ihre eigene Hyper-Realität, die aktuell unsere einzige Realität ist. Die einzige Möglichkeit, die Herausforderung der Simulation und dieser Neuen Wahrheit anzunehmen, wäre eine Strategie oder Perspektive, sich auf die “Objektseite” zu schlagen (zur näheren Erläuterung: mein Essay in IJBS “Baudrillard and Existentialism: Taking the Side of Objects” Volume 13, Number 2, July 2016). Man müsste die Codes kennen lernen, die der Simulation zugrundeliegen und sie ermöglichen, und sie reversibel machen. Die Umkehrung von Code wird möglich durch “Objekte” innerhalb des Codes, die ein Mehr an Objekthaftigkeit verlangen. Bis wir damit anfangen können, sei es mit David Cronenbergs VIDEODROME umschrieben: Es lebe die Neue Wahrheit!

Bernie Tuchman writes: “Your piece on Trump has great power because his election has defeated deniability. Something is Happening and You Don’t Know What It is Mr. Jones. The media continues to ‘analyze’ what it cannot understand. It is like a world which has entered into dementia — where the dream life is more real than the ‘awake’ life, and where no one can say which is which. It is the nervous breakdown of hierarchical order.”

Alexis Clancy comments: “I would ask you for the purposes of clarity to distinguish the difference between ‘truth’ and ‘fact’. In my own schooling around the ‘truth’ – to quote Popper – truth can only be disproved… I would not say that Trump was not bound by the truth – but more so I would say that he was not bound by facts.  Sure you can prove anything with facts… ”

Alexis: “Trump’s actual election is to Baudrillard what the detection of gravity waves is to Einstein. In 2016. In that both have  been proven to be correct. This means more for Baudrillard than it does for Einstein. In that most of us, I wager, more than suspected that Einstein was correct in his theories. For Baudrillard, well, infant – terrible ou non, he can now properly be described as a scientist…”

 

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