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Heterotopien zwischen Mensch und Natur, von Julia Krayer

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Heterotopien zwischen Mensch und Natur

Die Klimaerwärmung ist nicht erst seit gestern bekannt. Meine Generation wuchs damit auf, dass es unsere Umwelt zu schützen gilt und Nachhaltigkeit ist kein unbekannter Begriff, sondern wird teils sogar schon inflationär benutzt. Beschäftigen wir uns mit der Zukunft unserer Welt, unseres Ökosystems oder zumindest unserer Spezies, so bewegen wir uns schnell in unterschiedlichsten Szenarien. Je nach Hoffnung, beziehungsweise Glaube können wir die Klimaerwärmung stoppen oder sind dem Ende der Welt, wie wir sie kennen, schon näher als gedacht. So treffen wir auch bei der Suche nach Lösungen für diese Krise auf mannigfaltige Ideen. Zwischen einer guten Ausbildung unserer Kinder bis hin zur Flucht von unseren Planeten, finden sich Lösungsansätze in allen Abstufungen. Doch welche Abstufung wir auch wählen, so ist stets klar, dass sich die Spezies Mensch nicht ohne ein funktionierendes Ökosystem selbst erhalten kann. Dabei bleibt vorerst offen ob es die Rettung unseres Ökosystems „Natur“ sein wird, in welches wir bereits so weit eingegriffen haben, dass streitbar ist, ob es sich dabei noch um „Natur“ handelt oder ob es die Nachbildung eben jenes Ökosystems sein wird, die uns rettet. Zwischen Romantisierung von Natur und strent wissenschaftlichen Arbeiten gibt es auch hier unzählige Abstufungen. Dies macht sich, neben vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft, auch in der Architektur bemerkbar. Die offensichtliche Vielseitigkeit von Ansätzen sorgt auch in der Architektur für Gebäude mit den unterschiedlichsten Aufgaben und Bedeutungen. Ist ein Ansatz Gebäude selbst nachhaltiger zu gestalten, so entstehen andererseits auch Gebäude, deren Funktion es ist, durch die darin stattfindenden Abläufe, Teil einer möglichen Lösung zu werden. So entstehen Funktionsgebäude,  Heterotopien, denen trotz aller Unterschiede allen eins gemein ist: Sie alle sollen auf ihre eigene Art und Weise die Chance erhöhen, dass der Mensch in einem funktionierenden Ökosystem weitere Jahrtausende übersteht.

Heterotopien

Laut Michel Foucault gibt es Orte, welche zu allen anderen Orten in Beziehung stehen. Gleichzeitig suspensieren oder neutralisieren sie diese jedoch oder kehren sie gar ins Gegenteil. Dabei unterscheidet er zwischen zwei Arten, den Utopien und den Heterotopien. Utopien sind ohne realen Ort, sie stehen in einem Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft. Heterotopien sind tatsächlich verwirklichte Utopien, Räume, die zur Gesellschaft gehören, aber gleichzeitig Gegenorte darstellen. Michel Foucault stellte zu diesen Heterotopien sechs Grundsätze auf. Der erste Grundsatz lautet, dass jede Kultur, jede Gesellschaft Heterotopien hervorbringt. Angefangen bei Krisenheterotopien promitiver Gesellschaften. Das können beispielsweise Hütten sein, in denen sich die Frauen eines Dorfes während ihrer Monatsblutung aufhalten. Foucault definiert hier also den Zeitraum der weiblichen Regel als Zustand, in dem sich die Frau gegenüber der Gesellschaft, in einer Krise befindet. In heutigen Gesellschaften haben sich aus diesen Krisenheterotopien die Abweichungsheterotopien gebildet. So definiert Foucault Orte, an denen Menschen untergebracht werden, deren Verhalten von der Norm abweicht. Dies können psychiatrische Anstalten, Gefägninsse oder auch Altersheime sein. Von der Erfindung von Sanatorien, beziehungsweise psychiatrischen Anstalten, bis heute, haben sich diese sehr verändert. Dies entspricht dem zweiten Grundsatz, nach welchem Heterotopien sich wandeln können. Die Gesellschaft kann sie erhalten, dabei aber gleichzeitig auf andere Art und Weise funktionieren lassen. Der dritte Grundsatz besagt, dass Heterotopien die die Fähigkeit besitzen mehrere reale Räume, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, miteinander vereinen. Als Beispiel wird hier der traditionelle persische Garten genannt. In diesem werden symbolisch die vier Teile der Welt vereint, in deren Zentrum sich ein heiliger Raum, der Nabel der Welt, befindet. Im vierten Grundsatz stellt Foucault Beziehungen zwischen Heterotopien und Heterochronien her. Er sagt, dass Heterotopien meist mit zeitlichen Brüchen in Verbindung stehen. So sind Bibliotheken auf die Akkumulation von Zeit ausgelegt, in ihnen wird Zeit unablässig aufbewahrt und gesammelt. Auf der anderen Seite sind Feste oder Jahrmärkte zeitlich ausgerichtet und flüchtig. Ein weiterer, der fünfte Grundsatz, ist, dass Heterotopien ein System der Öffnung und Abschließung voraus setzen.

Eine Heterotopie zu betreten ist etwas Besonderes. So wird man entweder gezwungen sie zu betreten oder es gibt bestimmte Rituale und Gesten, welche man vor Betreten absolviert. Der letzte Grundsatz besagt, dass eine Heterotopie dem übrigen Raum gegenüber eine Funktion ausübt, die sich zwischen zwei extremen Polen bewegt.1 Diese, von Foucault definierten Grundsätze, treffen natürlich auch auf die anfangs genannten Funktionsgebäude zu.

Um darauf näher einzugehen, habe ich drei solcher Gebäude ausgewählt, beispielsweise „Biosphere II“ Das Gebäude ist eine Art riesiges Treibhaus und soll das Ökosystem der Erde, „Biosphere I“, nachbilden. 1992 bis 1994 sollten acht Menschen (vier Frauen und vier Männer) darin abgeschottet von der Umwelt autark überleben. So sollte heraus gefunden werden ob es möglich ist Ökosysteme nachzubilden und so möglicherweise autark funktionierende Raumstationen zu erschaffen, die einen Grundstein für das Überleben des Menschen fern der Erde sein könnten. Innerhalb von „Biosphere II“ wurden 23 verschiedene Bodentypen benutzt um verschiedene Ökosysteme nachzubilden.

Regenwald, Sumpf, Savanne, Wüste und auch Meer sollten die Erde imitieren. Sämtliche Stoffkreisläufe sollten geschlossen ablaufen, so gab es beispielsweise auch kein Toilettenpapier. Lediglich die Energie, 6 Millionen Kilowattstunden, wurden von außen eingespeist.2 Es ist nicht verwunderlich, dass das Experiment viel Aufmerksamkeit auf sich zog, darunter auch die Baudrillards. Er kritisiert, dass „Biosphere II“ als Nachbildung der Natur gilt, dabei jedoch darauf geachtet wurde durch Desinfektion und Prophylaxe alles unsterblich zu machen. Baudrillard merkt an, dass zur Natur aber auch Keime, Viren, das Chaos, Bakterien und Skorpione gehören.3 Er sollte Recht behalten. Das Experiment scheiterte. Nicht zuletzt daran, dass Schädlinge Einzug in das Treibhaus erhielten. Pilze und Milben schädigten viele Pflanzen, von den Tieren starben alle Blütenbestäuber und 19 von 25 Wirbeltiere aus. Gleichzeitig vermehrten sich Ameisen und Kakerlaken ungebremst. Zusätzlich reduzierte sich der Sauerstoff und das eigentlich geschlossene System musste geöffnet werden um die Bewohner vor dem Erstickungstod zu bewahren. Soziale Unstimmigkeiten führten schlussendlich zum totalen Scheitern. Eine zweite Mission wurde vorzeitig abgebrochen. Danach nutze die Columbia University in New York das Gebäude für
Experimente. 2007 gelangte „Biosphere II“ in private Hand und wurde von der University of Arizona genutzt um dort zur Klimaerwärmung zu forschen. Seit 2011 gehört es der Universität. Seine wechselhafte Geschichte ist ein Indiz für eine Heterotopie. Obwohl für etwas anderes gebaut, wird „Biosphere II“ auch heute noch genutzt, in ähnlicher, aber eben nicht der gleichen Art und Weise. Somit ist der zweite Grundsatz erfüllt, die Heterotopie in anderer Weise funktionieren zu lassen. Ganz ähnlich zum traditionellen persischen Garten vereint „Biosphere II“ ganz unterschiedliche Orte der Welt unter einem Dach, der dritte Grundsatz der Heterotopie. Gerade im zweijährigen Experiment wird der Grundsatz der Öffnung und Abschließung deutlich, aber auch heute ist „Biosphere II“ nicht völlig offen, sondern kann nur in Führungen besucht werden. Es ist eine Raum gewordene Utopie eines menschgemachten Ökosystems.

Nicht mit der Flucht auf andere Planeten, aber mit einem ähnlich düsteren Szenario befasst sich „Svalbard Global Seed Vault“. Die Biodiversität der Pflanzen- und Tierwelt auf unserem Planeten nimmt stetig ab. Die Landwirtschaft züchtet nur noch die lukrativsten Pflanzen und lässt so die Vielfalt schrumpfen. Vielfalt ist jedoch ein wichtiges Standbein eines funktionierenden Ökosystems. Was geschieht, wenn die Biodiversität so einschrumpft, dass das System zusammen bricht? Dass es nicht so weit kommt, dafür soll unter anderem der „Svalbard Global Seed Vault“ sorgen.Auf 1720m² lagern hier 100 Millionen Samen von 268.000 Nutzpflanzen aus 100 verschiedenen Ländern. Rein theoretisch bietet er Kapazität für bis zu 4,5 Millionen Musterspezies, beziehungsweise 2 Milliarden Samen. Der Vault bildet einen grauen Betonkeil in die Eislandschaft Spitzbergens. Dach und Front wurden aus Spiegelstahl, Spiegeln und Prismen von der Künstlerin Dyveke Sanne gestaltet. Ein Kunstwerk, welches das Polarlicht als Leuchtfeuer reflektiert. Es ist ein beeindruckendes Bauwerk, das den Betrachtet seine Wichtigkeit erahnen lässt. Wie eine Arche aus Beton ragt es aus dem Eis und gibt den Weg ins Innere des Berges und der Anlage frei. Im ewigen
Eis soll das Saatgut hier jahrhundertelang erhalten werden können.4 Die immense Wichtigkeit dieses Samentresors bedingt hohe Sicherheitsvorkehrungen, so kann man ihn nicht besuchen. Online steht die Anlage Interessierten aber in Form eines virtuellen Rundgangs auf croptrust.org offen. 5 Wir haben es hier also mit einer besonderen Form des fünften Grundsatzes der Heterotopie zu tun. Der verschlossene Ort öffnet sich in virtueller Form um auf einem Bildschirm die Abbildung des Raumes zu zeigen – eine irreale Utopie einer realen Utopie. Ähnlich wie die von Baudrillard genannten Bibliotheken, geht es hier um die Akkumulation von Zeit. Die Zucht von Pflanzen geschieht, wie das Schreiben von Büchern, auf der Basis menschlichen Wissens, welches über Jahrzehnte und Jahrhunderte gesammelt wurde. Dieses Wissen wird nun in Spitzbergen verwahrt und angehäuft. Womöglich so lange bis einen zeitlichen Bruch gibt und wir auf die Samen angewiesen sind. Hier ist der Grundsatz der zeitlichen Brüche erfüllt. Gleichzeitig könnte man den Vault als Krisenheterotopie verstehen. Zwar befinden sich nicht die Menschen selbst gegenüber der Gesellschaft in einem kritischen zustand, aber es ist durchaus ein kritischer Zustand, der für den
Bau des Vaults gesorgt hat.

Einen anderen Ansatz mit positiveren Intentionen liefert das „Environmental Education Center“/“Bezoekerscentrum MAK Bokweer“, Hoorn, Niederlande. Dieses Center bietet den Besuchern die Möglichkeit in einer Ausstellung etwas über ihre Umwelt zu lernen. Dabei ist es so gestaltet, dass es sich als grasbedeckter Hügel in die Landschaft integriert. Auf der dem Eingang gegenüber liegenden Seite bietet eine Fensterfront den Blick auf und in den davor liegenden Teich. Die Besucher können also auch direkt ihre Umwelt beobachten und erleben – werden selbst teil dieser.6 Die fast unsichtbare Eingliederung des Gebäudes in die Landschaft verbindet den äußeren und den inneren Raum und erfüllt so den dritten Grundsatz der Heterotopie. Zum Betreten des Centers meldet man sich an, man betritt es nicht einfach mal eben so, die Voraussetzung für den fünften Grundsatz der Heterotopie. Die Aufgabe des Centers bewegt sich zwischen Freizeit und Ausbildung, zwei Räume, die in unserer Gesellschaft sonst streng getrennt sind, es verbindet diese miteinander. Hier lässt sich der sechste Grundsatz erkennen.

Die vorgestellten Heterotopien verbinden alle auf ihre Weise den Menschen mit der Natur, beziehungsweise menschgemachter Natur. In einer Welt, in der uns unberührte Natur immer weiter verloren geht und sogar das Überleben unserer Spezies fraglich ist, können Heterotopien ein Mittel sein mit dem wir uns mit unserer Zukunft auseinander setzen und vielleicht auch in der Lage sind sie zum Besseren zu beeinflussen.

1 vgl: Michel Foucault, „Von anderen Räumen“

2 vgl: http://folio.nzz.ch/2008/mai/uberlebenskampf-im-gewachshaus und
http://www.deutschlandradiokultur.de/probelauf-fuers-leben-im-all.932.de.html?
dram:article_id=131307

3 vgl: Jean Baudrillard, „Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse“

4 vgl: Philip Jodito, „100 Contemporary Green Buildings“

5 vgl: https://www.croptrust.org/what-we-do/svalbard-global-seed-vault/

6 vgl: Philip Jodito, „100 Contemporary Green Buildings“

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