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Spiegel, Trübung, Höhle: Die Universitätsbibliothek Utrecht als singuläres Objekt, von Eicke Riggers

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Spiegel, Trübung, Höhle:
Die Universitätsbibliothek Utrecht als singuläres Objekt

Eicke Riggers

Die Universitätsbibliothek Utrecht wurde anhand 1997 bis 2001 entstandener Entwürfe des Architekturbüros Wiel Arets Architekten erbaut und 2004 fertig gestellt. Sie beherbergt 4,2 Millionen Bücher, die in einzelnen „Archiv-Einheiten“ dezentral im Gebäude verteilt sind. 1300 Sitzmöglichkeiten und 560 Arbeitsplätze stehen den Studierenden zur Verfügung, 300 den Bibliothekaren. Fassade und Innenräume sind durch große Flächen von mattem Schwarz bestimmt, das in hartem Kontrast zu den beinahe gleissend hellen, wie Wasser spiegelnden weißen Bodenflächen und den in diesem Zusammenspiel heraustretenden roten Tresen und Möbeln steht. Dieser Dreiklang, der durch das Schwarz dominiert wird, durchstimmt die Atmosphäre des gesamten Gebäudekomplexes.1

Die Außenfassade besteht zu großen Teilen aus schwarzen Beton-Paneelen, welche das tiefe Relief abstrahierter, fossilierter Papyrus-Pflanzen tragen. Diese Paneele finden sich auch in den Innenräumen, wo die dunklen, beinahe zerfurcht wirkenden Elemente die massive Optik der Außenflächen in das Innere transponieren. So spricht die Website des Architekten auch vom „cavernous interior“2 der Bibliothek – tatsächlich entsteht beim Blick aus dem Eingangsbereich nach oben der Eindruck einer Kaverne, wie sie im Bergbau bei der Schaffung künstlicher Hohlräume entsteht – einige Bereiche schlucken förmlich das Licht, andere lassen es großflächig, aber diffundierend einsickern, was trotz der imposanten Maßstäbe eine bemerkenswerte atmosphärische Verdichtung entstehen lässt.

Die Verteilung der Papyrus-Tafeln richtet sich nach der Distribution von Buchbeständen innerhalb der Bibliothek. Anlagerungen schwarzer Flächen entstehen also dort wo – in Form von Büchern – weißes Papier, schwarz bedruckt, angehäuft und archiviert ist. Die Fensterfronten sind komponiert aus ebenfalls mit dem Papyrus-Motiv bedruckten Scheiben, die in ihrer Größe und Anordnung den Beton-Elementen gleichen. Sie filtern und dimmen das einfallende Licht, was die empfindlichen Bücher schützt und darüber hinaus den Eindruck erweckt, die Lesenden befänden sich in einem „Dickicht“ aus Pflanzen, das Blicke abschirmt und die Außenwelt wie ein unregelmäßiger Filter mehr oder weniger stark ausschließt. Beton-Reliefs und Pflanzen-Prints erzeugen so an vielen Stellen eine Atmosphäre, wie man sie in natürlichen, felsigen Umgebungen vorfindet, etwa in zum Himmel hin geöffneten Höhlen oder Tälern.

Nach außen entsteht durch die bedruckten, lediglich halb entspiegelten Fensterflächen eine Oberfläche, welche zwischen einer a) Spiegelung der Umwelt; b) der auf die Oberfläche selbst verweisenden Flächigkeit des Raster-Drucks und c) einem getrübten Durchblick auf die dahinter liegenden Räume changiert wie ein Vexierbild. Tiefe und Oberflächen stehen in dauerndem Spiel, und aus gewisser Perspektive wird gar die ganze Fensterfront zur Spiegelfläche und verwandelt die Glasfront zu einem „virtuellen Raum“, in dem Begrenzung und Umwelt verschwimmen: „aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten (…).“3 Welche Metaphorik könnte passender sein: Der Blick in den Papyrus (der hier nicht mehr ist als ein Dickicht, welches die tatsächlichen Bücher verbirgt und schützt) wirft mich auf mich selbst zurück. Der bei Foucault als Mittelerfahrung von Utopie und Heterotopie beschriebene Spiegel bedeckt gewissermaßen als Außenhaut eine andere, die institutionalisierte Heterotopie par excellence, nämlich die Bibliothek, das Archiv, innerhalb dessen diese Heterotopie sich mit einer Heterochronie verschränkt, jener einer fortwährenden Anhäufung von Zeit und Wissen. Die Bibliothek ist, auch wenn sie in Zeiten des Internets vielfach als anachronistisch erscheinen mag, noch ein ausgesprochen junges, modernes Projekt: „Doch die Idee, alles zu akkumulieren, (…) die Idee, einen Ort aller Zeiten zu installieren, der selber außer der Zeit (…) sein soll, das Projekt, solchermaßen eine fortwährende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einem unerschütterlichen Ort zu organisieren, all das gehört unserer Modernität an.“4 Und um diesen Ort herum installieren die Architekten in Utrecht eine „destabilisierte Zone“ – in einem ähnlichen Zusammenhang spricht Jean Nouvel von dieser Strategie der Antäuschung virtueller Räume: „These are the means by which architecture creates a virtual space or a mental space; it’s a way of tricking the senses. But it’s primarily a way of preserving a destabilized area.“5

Interessant an diesem Bauwerk scheint auch die „Trübung“ der Oberflächen der Fensterelemente durch aufgedruckten Papyrus, wobei die Bedruckung ihrerseits wiederum nur Abbild eines Fossils ist. Scheint der Verweis auf die Papyruspflanze als eine Bedingung der Möglichkeit der Entstehung von Schriftkultur im alten Ägypten und sukzessive in Griechenland, Rom und der abendländischen Welt (βίβλος, bíblos, bezeichnete im Altgriechischen die Schriftrolle aus ebenjener Sumpfpflanze) recht offensichtlich, so ist doch interessant, dass die Architekten sich dafür entschieden, die Fensterfronten mithilfe eines aufgedruckten „Pflanzendickichts“, einer organischen und damit genuin unruhigen Struktur, stellenweise zu bedecken und durch diesen grafischen Eingriff in das architektonische Objekt die Vorherrschaft der Transparenz, wie sie die klassische moderne und die zeitgenössische Architektur gleichermaßen auszeichnet, zu brechen. Handelt es sich nicht aber um eine gewissermaßen intellektuell perfide legitimierte Art oberflächlichen Ornaments? Ich denke nicht, ist doch die Störung des Lichteinfalls und damit auch der Sicht zentrale Aufgabe der Drucke. Nimmt der gesamte Bau innen wie außen primär Bezug auf den optischen Sinn, so ist die Opazität, also gerade das Nicht-Sehen-Können, gerade hier wichtiger Bestandteil der architektonischen Strategie, wie sie sich, möglicherweise erst in der nachgängigen Reflexion vollständig identifizierbar, vor dem Betrachter entfaltet. (Es bliebe zu fragen, wie viel die Architekten selbst vom Effekt dieser Methoden beziehungsweise tektonischen Regeln geahnt haben – so zitiert der Architekt Jean Nouvel Jean Baudrillard in „The Singular Objects of Architecture“ wie folgt: „in architecture the situation must be looked at backwards, we need to identify a rule.“6) In einem aufschlussreichen Bezug auf Martin Heideggers ambivalentes Motiv der „Zuhandenheit“ und der „Unzuhandenheit“, das sich in dessen spätem Werk zu dem vom Visuellen her gedachten Verhältnis von „Verborgenheit“ und „Unverborgenheit“ entfaltet, umreisst der Philosoph Markus Rautzenberg eine Phänomenologie optischer (Un-) Durchsichtigkeit, Trübung: „Transparenz und Opazität, Zuhandenheit und Vorhandenheit sind zwei Modi derselben Verbergungsdynamik, die sich nicht nur in der ‚Abstoßtendenz‘ von Störungen und Irritationen zeigt. Perturbation ist nicht mit Opazität gleichzusetzen, der dann Transparenz als dessen Gegenteil gegenübergestellt werden könnte. Was sich in Störungen zeigt, ist Opazität in der Transparenz, das ‚Zuhandene in seiner unentwegten Vorhandenheit.‘“7 Für die architektonisch-philosophische Analyse heißt das, dass uns bereits die Oberfläche des Bibliotheksgebäudes suggeriert (und das nicht im Sinne einer vorrangig intellektuell realisierten Zeichen-Nachricht-Empfänger-Relation), dass es sich nicht um ein dem Internet ähnliches Archiv des räumlich und zeitlich uneingeschränkt zugänglichen Wissens handelt, sondern vielmehr um einen Ort, an dem Wissen sich verbirgt und entbirgt, geortet, gehoben und wieder verloren werden kann, in schweren Büchern, schmalen Heften, zwischen Millionen von Buchdeckeln, nur um von jemand anderem wiederum entdeckt und auf neue Weise verknüpft und aktualisiert zu werden.

So vereint sich der topos einer „Kaverne“, das matte Schwarz, das Gefühl, sich in einer bergenden Höhle zu befinden, mit dem Motiv der Undurchsichtigkeit, des Semi-Transparenten, des beinahe Geheimnisvollen, das dem äußerlichen, begehrlichen Blick stets (un-)verborgen bleiben muss. In der Beschreibung der holländischen Architekten heißt es analog: „The omnipresent color black is critical to creating the interior’s transcending atmosphere of concentration, security, and silent communication (…).“ Doch entziehen sich Teile des Gebäudes in eine Unbestimmtheit, die sich gerade nicht in der Beschreibung der architektonischen Strategie oder Idee erschöpft: „We need to find a compromise between what we control and what we provoke“8, wie Jean Nouvel das Drama der architektonischen Tätigkeit umreißt. So waren die Setzung der Fassade, der Glas- und Betonelemente, der Zirkulationsflächen und der zurückgesetzten Studienräume, der Druck und die Modulation der Papyrus-Motive sicher Teile einer architektonischen Tätigkeit, die sich von der gestalterisch produktiven Spannung von Problem und Lösung herleitet. Doch in den Zwischenräumen, im Licht- und Spiegelspiel der Fenster und der Bodens, im Halbschatten, in den Verweisungsbezügen der Grafik und des Reliefs, in der Trübung und Abschattung, zwischen den Regalen und Buchdeckeln scheint es einen Überschuss zu geben, der sich nicht auffangen lässt durch Theorie oder Explikation und sich wiederum in eine Unbestimmtheit, oder, visuell ausgelegt, Unsichtbarkeit zurückzieht.9 Vielleicht ist es ein Teil von dem, was Jean Baudrillard meint, wenn er feststellt, dass „in art the strongest works are those that abandon this whole business of art and art history and aesthetics. (…) Within that overaestheticized dimension, with its pretense of meaning, reality, truth, I like it most when it is most invisible. I think that good architecture can do this as well; it’s not so much a grieving process as a process of disappearance, of controlling disappearance as much as appearance.“10 Vielleicht muss ein zeitgenössisches Bibliotheksgebäude im Angesicht zunehmend digitaler, global distributierter Archive eine eine Form annehmen, die gerade das „Geheimnisvolle“ einer Schriftkultur in sich aufnehmen kann, Raum für seine Kontemplation und Orte zu seinem Studium geben kann: „We’re looking for the lost object, whether we’re referring to meaning or language. We use language, but it’s always, at the same time, a form of nostalgia, a lost object. (…) This seems to be true for any kind of form. Form is always already lost, then always already seen as something beyond itself. It’s the essence of radicality.“11 Insofern wäre diese Bibliothek radikal modern.

NOTES

1 Für Bildmaterial siehe http://www.wielaretsarchitects.com/en/projects/utrecht_university_library/

2 Ebd.

3 Foucault, Michel, Andere Räume. In: Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 199, S. 39.

4 Ebd., S. 43.

5 Baudrillard, Jean; Nouvel, Jean, The Singular Objects of Architecture, Minneapolis 2002, S. 8.

6 Baudrillard; Nouvel, S. 13.

7 Rautzenberg, Markus, Opazität. In: Glossar. Grundbegriffe des Bildes. In: Rheinsprung 11 – Zeitschrift für Bildkritik, Ausg. 04, 2012, S. 140. Abzurufen unter: http://bit.ly/1qCfOKW

8 Baudrillard; Nouvel, S. 6.

9 Zugleich könnte man den Architekten einen Mangel an Konsequenz vorwerfen, ist doch das Entree oder Erdgeschoss des Gebäudes vollkommen transparent verglast. Und man könnte sich gleichzeitig fragen, inwiefern derlei Kritik für Architektur, das angesichts der uneinholbaren Faktizität gebauter Masse, nicht immer schon zu spät kommt, im Gegenteil beispielsweise zur Kritik an bestimmten philosophischen Theorien.

10 Baudrillard; Nouvel, S. 13.

11 Ebd., S. 15.

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