Zwischenstation: Realität – Ein Monolog, von Ramina Kalashnykova
Bilder ersetzen und verdrängen die Realität1…, wer gibt uns die Bilder vor und warum genau diese? Was befindet sich zwischen den Bildern? Oder haben wir die Fähigkeit verloren, das Dazwischen zu sehen?
Station 1: Reise
»Die Reise ist eine Art Tür, durch die man Realität verlässt, um in eine unerforschte Realität einzutreten, die ein Traum zu sein scheint. «.2 , schrieb Guy de Maupassant vor über hundertzwanzig Jahren. Und, wenn er es heute twittern würde? Wäre nicht eher der Gang zum Kühlschrank oder der Spurt zum WC diese Art Tür, durch die man Virtualität verlässt, um in eine unerforschte Realität einzutreten, die ein Traum zu sein scheint? Ein, zugegeben, schwieriger Traum: unmittelbar, unvorhersehbar, unwiederholbar, hyperreal. Einer, in dem man nicht auf »speichern« oder »löschen« klicken kann. Ist eine reale Reise überhaupt noch zeitgemäß? Oft erscheint es, unter der Berücksichtigung der beschleunigten Schnelligkeit des Wirklichkeitswandels, effektiver, einen Ort mithilfe eines Mausklicks zu bereisen. Sowieso sind wir pausenlos mit Bildern konfrontiert, die wir für mehr als real halten. Denn, wie Paul Virillio sagt, uns fehlt die Zeit zum Hinterfragen. Warum also in einen Flieger steigen (übrigens könnte dieser auch abstürzen, denn jeder Fortschritt trägt eine Kehrseite in sich.3 Und obwohl das Google-Orakel uns versichert, das Flugzeug sei das sicherste aller Transportmittel, werden wir doch all die Bilder der aktuellen Geschehnisse nicht los. Und selbst wenn ein Flug nicht durch einen Absturz endet, ist es zumindest Umweltverschmutzung. Und das wollen wir nicht. Denn je dominanter Technologie in unserem Leben wird, desto stärker wird, kompensatorisch, unser Interesse an der Natur.)…
Warum also in einen Flieger nach New York steigen? Denn, Hand aufs Herz, wir, die sich auf Google Images umgeschaut haben, und wir, die so leidenschaftlich amerikanische Filme und Serien konsumieren, wissen doch ganz genau wie es dort ausschaut… Gestern sagte ein Facebookfreund zu mir, man müsse geschriebene ironische Sätze unbedingt durch eine Smiley kennzeichnen. Ich bin wohl ein Rebell.
Station 2: In guter Gesellschaft
In unserer Zeit der tachogenen Weltfremdheit brauchen wir Entschleunigung, kompensatorische Kontinuitäten in Form von Usancen, wie es Marquard formuliert. Wir brauchen gewisse Traditionen und Rituale, um in der sich ständig wandelnden Welt nicht unterzugehen. Und so trifft man sich regelmäßig zu den üblichen Anlässen. Es ist Freitagabend. Ich bin eingeladen zu der Einweihungsfeier eines Bekannten. Der Gastgeber freut sich sichtlich über seinen Besuch. Dabei ist sein Blick konzentriert auf den Hinterkopf von Super Mario gerichtet. Man spielt Mario Go Kart, immer vier Leute gleichzeitig, während die anderen ungeduldig im Salat stochernd auf ihren Einsatz warten. Gesprochen wird nur zwischen den Kommentaren zum Spiel. Als Krönung kann man sich die Highlights des Rennens noch mal in Zeitlupe ansehen. Dann ist der Abend vorbei. Womöglich haben einige von uns tatsächlich verlernt, im nicht-virtuellen Raum zu kommunizieren, wie Sherry Turkle in ihrem Buch Alone Togehter beschreibt. Vielleicht liegt es aber auch an der zeitspezifisch modernen Beeinträchtigung des Erwachsenwerdens4, dass (aus biologischer Sicht) erwachsenen Menschen all ihre Freizeit für Computerspiele opfern. Selbst in Gesellschaft kann man die Flucht in die Virtualität scheinbar kaum erwarten. Doch sinkt mit den steigenden Fähigkeiten unserer virtuellen Avatare, nicht unsere soziale Kompetenz, die nur unmittelbar in Face-to-Face Situationen geübt werden kann? In einer Zeit maximaler Erwachsenheit werden wir nicht mehr erwachsen. 5 Dabei wird uns die Neigung zum infantilen Lebensstil von unseren Lieblings TV Helden, wie den Bewohnern der Big Bang Theory – WG vorgelebt, die bei geliefertem Fastfood und Comicbüchern ihre Crisis der Midlife-Pubertät celibrieren.
Station 3: Der ewige Begleiter
Ob erwachsen oder nicht, die Meisten wollen oder können nicht alleine sein. Und das müssen sie auch nicht, so die Illusion, dank des perfekt kompakten Gefährten in unserer Hosentasche. Mit dem Smartphone haben wir eine wundersame Zeitmaschiene erfunden. Eine Brücke in Raum und Zeit, die es erlaubt, jeder Zeit an jedem Ort zu sein und nur durch ein paar Berührungen des Displays jeden Bewohner unserer Telefonliste, wo er sich auch befinden mag, zu kontaktieren. Was hätten Boten in früheren Epochen, die nicht selten ihr Leben für die Überbringung einer Nachricht aufs Spiel setzten mussten, wohl für so ein Hilfsgerät gegeben? Durch das Phänomen Smartphone wird, die von Günther Anders beschriebene Omnipräsenz des Menschen deutlich: wir sind überall zu jeder Zeit, aber auch nirgendwo zugleich. Mit diesem ewigen Begleiter in unserer Tasche besitzen wir etwas, das uns unglaubliche Macht verleiht: den Zugang zu jedem beliebigen Wissen unserer Welt. Und wir wissen es weise zu nutzen. Wir googeln, recherchieren, bilden uns fort zum Thema Katzen, Kaffee, Kopfschmerz, kaufen, konsumieren und, wenn wir schon dabei sind, zum Thema: Kriegen Katzen Kopfschmerz wenn sie Kaffee konsumieren?
Katastrophe…
Noch nie war der Satz »Time is devil, speed is God« aktueller gewesen. Gleichzeitig, so mein Eindruck, wurde noch nie so viel Zeit verschwendet. Regelmäßig nutzen wir die Nacht um uns bei Facebook darüber zu informieren, was Leute, die wir nicht kennen, anstatt zu schlafen posten, damit Leute wie wir, anstatt zu schlafen, es liken. Aber wann hat man eigentlich das letzte Mal eine wirklich wichtige Nachricht auf Facebook bekommen? Wann hat man das letzte Mal…
Ich habe den Faden verloren. Mangelnde Konzentrationsfähigkeit über eine längere Zeitspanne hinweg ist das Resultat der permanenten Attacke visueller Eindrücke, der wir ständig unterliegen. Während ich schreibe werde ich immer wieder abgelenkt, durch aufpoppende Werbung. Ich werde ständig aufgefordert etwas zu kaufen, diesmal – eine Menstruationstasse. Mittlerweile habe ich gegoogelt was das ist. Nein, danke. Ich brauche eine Pause, möchte kurz aussteigen, auch wenn es nur eine Zwischenstation ist.
Zwischenstation: Realität.
1
Vgl. Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 10 ff.
2 Guy de Maupassant, zitiert nach: Paul Virillio: Fluchtgeschwingigkeit Frankfurt am Main: Fischer
Taschenbuch Verlag 2001, S.93.
3 Vgl. Paul Virillio. In: Denker der Geschwindigkeit. Stéphane Paoli. Frankreich 2008
4 Vgl. Odo Marquard: Apologie des Zufälligen.Stuttgart: Reclam 2013, S. 77 ff.
5 Vgl. ebd.