„Wir leben in einer Welt […], in der das Tun mehr zählt als das Lassen.“ [Kathrin Busch, Theorien der Passivität, S. 9] Alles wird auf seine Nützlichkeit geprüft. Jeder und Alles muss etwas produzieren oder erbringen und so seinen Beitrag zur effizienten Gesellschaft leisten. Jedes Objekt und jedes Denken soll Lösungsvorschläge hervorbringen. Wir (und hier schließe ich jedes Ding mit ein) werden regelrecht zu Leistungsmaschinen. Erfüllt man nicht mehr sein Soll, wird man ausgetauscht. Jedoch „[der] Exzess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele.“ [Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, S. 57] Was passiert, wenn wir alle zu zweckmäßigen, schnelleren, ökonomischeren, nutzbringenden, günstigeren Maschinen werden? „Man will Geld verdienen um glücklich zu leben […]. Das Glück wird vergessen; das Mittel wird Selbstzweck.“ [Albert Camus, Der Mythos des Sysiphos, S. 134] Wie kann man dem Streben nach mehr Effizienz, nach mehr Produktion und mehr Geld das Streben nach mehr Bewusstsein, nach mehr Achtsamkeit, nach mehr Aufmerksamkeit, nach mehr Muße [im Sinne von selbstbestimmter Zeit, oder dem althochdeutschen Wort „muoza“, das so viel wie Möglichkeit bedeutet] hinzufügen? Ein Streben nach selbst erwähltem Handeln, nach einem Zeitraum der selbst gestaltet ist.
Mit meinem kreativen Entwicklungsvorhaben, möchte ich in Erfahrung bringen, wie Artefakte dem Menschen helfen können sich mehr Zeit für sich zu nehmen. Beginnen möchte ich mit dem Wunsch, den in meiner Recherche einige äußerten, sich (mehr) Zeit zum Lesen zu nehmen.
Das Geschriebene ist also das mit dem ich mich hier in Zusammenhang mit Medien beschäftigen möchte. Mir stellt sich die Frage, ob sich der Inhalt des Textes mit dem Medium in dem er sich befindet und der Technik des Lesens verändert.
Die Lesegeschwindigkeit beeinflusst die Erzählgeschwindigkeit im Gelesenen wie auch die Erzählgeschwindigkeit die Lesegeschwindigkeit beeinflusst. Ließt man quer, so wird man den Inhalt des Buches erkennen können, jedoch nicht die Zeit aufbringen können über das Gelesene nachzudenken, auf seine Richtigkeit zu überprüfen oder weiter darüber nachzudenken. Ist das Geschriebene ungenau, schreitet rasend schnell voran und bombardiert den Lesenden mit Informationen, wird der Lesende von der Masse und der Geschwindigkeit überfordert sein und nicht alles so überdenken / bedenken können, wie es nötig wäre um in die Geschichte eintauchen – sie verstehen zu können. Das schnelle Lesen macht es also einfacher getäuscht zu werden. Ein Leser jedoch, der sich die Zeit nimmt jedes Wort aufzulesen und im gelesenen verschwinden kann, der wird auch die Zeit haben das gelesene zu verstehen.
„Auf Reisen siehst du die Welt. Und beim Lesen siehst du die Welt mit anderen Augen“, sagt Amazon in ihrer jetzigen Werbekampagne. Dem stimme ich zu. Ein Roman kann Erfahrungen simulieren, sodass man sogar fast meinen könnte es erlebt zu haben. Die Figuren scheinen eigene Freunde zu sein oder Hass auf sich zu ziehen. Die Welt der Figuren wird real. Ist die Geschichte zu ende erzählt, wird man die Freundschaften, die geschlossen wurden vermissen oder sich wünschen erfahren zu können wie die Geschichte weiter geht. Man meint Teil der Geschichte gewesen zu sein. Amazon sagt jedoch auch, dass man dank des Kindle alle seine Bücher bei sich tragen kann. Ich jedoch halte das Buch, gedruckt auf Blätter für das Medium, mit dessen Hilfe man am tiefsten in seinen Inhalt eintauchen kann, mit dessen Unterstützung man am schnellsten auf das daran gelesene erinnert werden kann. Halten die Hände ein Buch und ertasten die Oberfläche, riecht die Nase seine Druckerfarbe und erkennen die Augen das Schriftbild, so wird sich der Leser bei der nächsten Begegnung wieder an die im Buch beschriebenen Erfahrungen und erinnern können. Er wird sich erinnern können, wo in etwa im Buch was statt fand. Schlafforscher empfehlen keinen weiteren Tätigkeiten als dem Schlafen im Bett nachzugehen, da der Mensch so mit dem Bett nur das Schlafen verknüpft und einem so diese Tätigkeit an diesem bestimmten Ort leichter fällt. Ich denke das dies mit dem Buch ähnlich funktioniert. Das Kindle lässt jedes Buch gleich aussehen, jedes Buch gleich riechen und anfühlen. Man kann mit dem gleichen Gerät Texte für den Beruf lesen, einen spannenden Krimi lesen oder Spiele spielen und im Web surfen. Das Kindle ist definitiv das effizientere Gerät. Jedoch, „[das] Buch ist abgekoppelt von anderen Netzwerke. Ein E-Book ist das nicht.“ [Alan Shapiro, Essen, 05.11.15] Mit einem Buch kann ich nur eins besonders gut: Ich kann seine Geschichte lesen, eine fremde Erfahrung machen. Das Buch wird nicht aussehen wie jedes andere Buch und seine äußere Gestalt lässt Rückschlüsse auf seinen Inhalt zu. Es kann mir sogar erzählen, ob genau dieses Buch schon jemand vor mir laß, oder ob ich es bei meinem letzten Strandurlaub bei mir hatte. Ein Kindle kann mir all dies nur mit der schwarz-weißen Gestalt des kleinen Buchcovers zu vermitteln versuchen oder ich muss hineinlesen. Das Schriftbild wird bei jedem Buch das gleiche sein, egal ob die Ausgabe 200 oder zwei Jahre alt ist.
Am Abend des Anschlags in Paris war ich in Hyperion, einer Performance vom Regiseur Sebastian Blasius und dem Schauspieler Jan Dieter Scheider. Sie möchten herausfinden, „wie sich mit ästhetischer Praxis politisch relevant handeln lässt“. [Sebastian Blasius, Koblenz, 13.11.15] Schneider trägt hauptsächlich Revulutionsschriften aus dem frühen 19. Jahrhundert aus Frankreich vor. Ein Textausschnitt ließ mich mich selbst mit einer Mistgabel und einer Fackel bewaffnet eine Revolution anzetteln sehen. Wofür oder wogegen genau ist mir nicht klar. Nach dem aufwühlenden Abend (Blasius lebt in Paris und Bonn) googelte ich eben diese mich sehr stark mitreißende Textstelle. „Es geht nicht mehr darum zu warten – auf einen Lichtblick, die Revolution, die atomare Apokalypse oder eine soziale Bewegung. Noch zu warten ist Wahnsinn. Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist. Wir befinden uns schon jetzt in der Untergangsbewegung einer Zivilisation. Das ist der Punkt, an dem man Partei ergreifen muss.“ [Jan Dieter Schneider zitiert in Hyperion am 13.11.15 Der kommende Aufstand / L‘insurrection qui vient, unsichtbares Komitee, 2007] Den Text nieder geschrieben vor mir sehend, ließ mich stutzen. „Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Waffen sind notwendig“, heißt es in dem PDF, das ich finde, auf Seite 86. Nein, mit den Autoren dieser Schrift möchte ich keine gemeinsame Sache machen. Die mir vorgetragenen Textstücke, gemischt aus verschiedenen Zeiten, alle eine Revolution antreibend ließen mir wenig Zeit darüber nachzudenken, zu reflektieren, zu verneinen. Erst der in geschriebener Form vor mir liegende Text ließ mir die benötigte Zeit.
„Ich sitze in meinem Herzen“ ist der Titel einer Arbeit von Steffen Hartwig. Man könnte Stunden damit verbringen über Situationen nachzudenken in denen man selbst diesen Satz hätte sagen können. „Ich sitze in meinem Herzen“ kling wie ein Satz aus uns bekannter Literatur des Sturm und Drang. Steffen Hartwig hat diesen Satz nie selbst geschrieben, er zitiert auch keinen anderen als eine von ihm gebaute Maschine mit diesem Satz. In diese Maschine implementierte Steffen Hartwig ein Programm, einen Code, der die Maschine neue Sätze konstruieren und von einem Nadeldrucker schreiben lässt, die im Menschen Emotionen hervorrufen. Der Leser kann nicht erkennen ob der Text von einem Menschen ist oder nicht. Dennoch werden echte Emotionen geweckt.
Der Inhalt des Textes hängt meiner Meinung nach definitiv vom Medium ab in dem er sich befindet. Im Kindle oder am Laptop wird es schnell um ein effizientes Lesen gehen. Ein Lesen, bei dem es um schnelles erfassen von Informationen gehen soll. Bei einem Buch wird eher „geweidet“, der Lesende wird sich Zeit nehmen jedes einzelne Wort aufzulesen und auch Zeit zum reflektieren finden. Ebenfalls wird er beim wieder in die Hand nehmen des Buches an seinen Inhalt erinnert werden. Das Kindle ist mit vielen verschiedenen Erlebnissen verknüpft, es wird mir nicht helfen können mich zu erinnern. Auch gerät der Lesende am Kindle schnell in die Gefahr durch verlinkungen in anderen Geschichten zu landen und keinen Gedanken zu Ende zu denken.