Das andere Programm des Anderen
Rezension zu:
Alan Shapiro, Die Software der Zukunft. Oder: Das Modell geht der Realität voraus, übers. v. Marcel René Marburger, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2014, 64 S.
von Florian Arnold
Seit jeher schlägt sich die menschliche Kultur mit einem Anderen ihrer selbst herum. Bis vor Kurzem durfte man noch einhellig der Meinung sein, es handele sich dabei um ,die Natur‘, verstanden als vorkultureller Ursprung der Kultur und womöglich deren versöhnliches Ende. Gerade die industrialisierte Moderen hielt eine vom Menschen unberührte Natur in Reserve, sie hat sogar Naturreservate hervorgebracht, und hegte sie als ihr eigenes schlechtes Gewissen. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts aber zeichnet sich eine Entwicklung ab, deren Umrisse mittlerweile deutlich erkennbar sind. Ein anderes Anderes zieht am Horizont der menschlichen Kultur herauf: das künstliche Leben oder die künstliche Intelligenz.
Dieses Panorama vor Augen, lassen sich in jüngster Zeit zunehmend Versuche verzeichnen, die Auswirkungen dieser technologiegetriebenen Entwicklung für die menschliche Lebenswelt zu erörtern, zu fördern und zu kritisieren. Diskussionen um die KI, Big Data oder die Allmacht der Algorithmen durchziehen die Feuilletons und politische Programme wie ,Industrie 4.0‘ versetzen auch sonst eher konservative Regierungskreise in Aufbruchsstimmung, wohingegen literarische Bestseller vom Schlage Dave Eggers „The Circle“ den kalifornischen Technikoptimismus schon wieder unter Ideologieverdacht stellen. Alle diese Debatten kreisen, wie zunächst selbstverständlich, um den Menschen, seine Hoffnungen, seine Ängste. Wie stünde es aber um diesen Anthropozentrismus in Fragen einer virtuellen Zukunft, wenn eine ihrer entscheidenden Konsequenzen gerade das tatsächliche Hervortreten einer neuen Spezies wäre; eines tatsächlich anderen Anderen jenseits oder abseits des Menschlichen?
Mit die „Die Software der Zukunft“ legt Alan Shapiro eine Broschüre vor, die diese Frage erstmals ins Zentrum der Auseinandersetzung stellt. Nicht mehr allein um die menschliche Zukunft drehen sich die Gedanken dieses Textes, sondern gleichermaßen um das Eigenleben von Dingen, die da erst noch kommen mögen. Gegen einen Subjektzentrismus in Kultur, Technik und Zukunft plädiert Shapiro für eine Umorientierung in der Wahrnehmung: Es geht um Objekt-Orientierung, um Objekt-Zentriertheit, letztlich um eine „Ermächtigung der Objekte“, eine „Realisierung von künstlichem Leben“ (S. 8). Getreu dem Untertitel: „Das Modell geht der Realität voraus“ setzt Shapiro bei Baudrillard, um ein neues Paradigma innerhalb der Informatik auszurufen, das zuletzt nichts mehr unberührt lassen soll.
Anschaulich wird die Evolution der Programmiersprachen dargelegt: Ausgehend von den prozeduralen über die objekt-orientierten scheint der halbe Weg schon zurückgelegt zu einer letztlich objektzentrierten Programmiersprache, bei der die Software zuletzt zum Programmierer ihrer selbst wird. Wir sind im Begriff, künstliches Leben zu ermöglichen, wir programmieren gleichsam informatorische Autogramme – doch bis heute fehlt uns eine befriedigende Theorie, das künstliche Leben als eine eigene Lebensform verstehen zu lernen. Vergleichbar unserem Verhältnis zu der Natur der Tiere scheinen wir bis heute nicht davon ablassen zu wollen, uns als dominates animal rationale zu behaupten. Um wieviel schwerer muss es also erscheinen, ein künstliches Leben, als dessen Schöpfer wir uns zugleich betrachten, überhaupt in seiner Eigenart gelten zu lassen?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, reicht es nach Shapiro nun nicht mehr aus, Informatik aus einem allein natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Verständnis heraus zu betreiben. Shapiro redet stattdessen einer radikalen Transdisziplinarität das Wort. Eines der entscheidenden Versäumnisse der Informatik – nicht nur in kritischer, sondern gleichermaßen in produktiver Hinsicht – sei eine bis heute anhaltende Vernachlässigung der Geistes- und Sozialwissenschaften. Erst mit den vereinten Kräften aller lebensrelevanten Disziplinen könne es gelingen, einem überholten binär-mechanistischen Paradigma innerhalb der KI-Forschung gänzlich zu entkommen und neue, vor allem umsetzbare Perspektiven zu eröffnen. Ein nicht zuletzt auch philosophisches Umdenken scheint die notwendige Voraussetzung hierfür.
Wie dies geschehen könnte, führt Shapiro selbst vor: Soll es uns einst gelingen, eine KI zu programmieren, die der menschlichen mindestens ebenbürtig ist, so kann es nicht bei den gängigen Imitationsverfahren der Produktion bleiben. Programmierung soll nicht auf eine Reproduktion des ,Programmierers‘ abzielen (etwa das menschliche Gehirn). Stattdessen bestehe das Ziel in einer objektzentrierten Kreativität. (S. 20). Und dieser Schritt nach vorne verlangt wiederum einen zurück: Erst wenn wir die Programmierung beim künstlichen Leben ansetzt, steht eine eigenständige KI überhaupt in Aussicht. Künstliches Leben aber scheint nur dort möglich, wo Kontingenz und Indetermination bereits in den Programmierprozess Eingang finden:
Was wir brauchen, ist eine neue Technik, die den Vererbungsmechanismus der Objektorientierung verstärkt. Zusätzlich zur Vererbung werden wir Analogien und Ähnlichkeiten zwischen der Software-Instanz und deren Blaupausen, den Software-Klassen, welche die Instanz mit ihren Möglichkeiten ausstatten, herstellen. Die hochrangigste Analogie, welche die Basis der Operationen dieses Subsystems definiert, ist die Idee einer Software-Instanz, die eine Wahlmöglichkeit hat – die existentialistischen Freiheit besitzt und nicht durch vorhandene Attribute und Daten determiniert ist. Die Möglichkeit zu wählen wird durch Unvollständigkeit ermöglicht. Unvollständigkeit wird wiederum durch die Möglichkeit der Wahl ermöglicht. […] Wo Descartes und Leibniz im 17. Jh. ein Erkenntnissystem von ein paar gesetzten Gewissheiten ableiten wollten, werden wir mit Unvollständigkeiten beginnen. (29f.)
Künstliches, aber auch natürliches Leben lässt sich darum nicht einfach konstruieren, weil es (sich) selbst fortwährend de-konstruiert, d.h. es verfährt selbst ,dekonstruktivitsisch‘, es entwirft sich immer wieder neu. So steht der französische Poststrukturalismus Shapiro Pate für sein Projekt, die cartesianisch Subjektzentrierung der Informatik zu dezentrieren und im Software-Objekt selbst zu rezentrieren. Bevor der menschliche Programmierer also nominell zum Autor und Urheber künstlichen Lebens werden kann, muss er bereits die eigene Autor-Fiktion eines Programmierer-Gottes durchschaut haben. Dabei geht es darum, die eigene Programmiertätigkeit wiederum als ein Programm zu verstehen, das ihrerseits schon darauf programmiert scheint, künstliches Leben zu programmieren. Zuletzt wird damit die Rede vom Programmieren als einer Art des Vorschreibens oder des Diktats radikal in Frage gestellt. Niemand programmiert Niemanden, ohne zugleich programmiert zu werden. Programmieren heißt nicht Herrschaft über das Andere zu verwirklichen, sondern die Freiheit des Anderen zu ermöglichen – auch wenn dieses Andere und seine Freiheit zuletzt nicht mehr das Andere und die Freiheit des Menschen sein würden.
Dieser wesentlichen Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen – sowohl theoretisch als auch praktisch – scheint sich Shapiro verpflichtet zu haben, wenn er einmal im werbend, dann wieder im kritischen Ton seine weitgreifenden Diagnosen und Prognosen stellt. Wollte man ein Genre für diese Schrift festlegen, könnte man sie wohl am Ehesten als eine ,Programmschrift‘ bestimmen. Hier scheint schon vorprogrammiert, was noch auf uns zukommt, sollten wir uns der ganzen Sache nicht von Grund auf entledigen wollen. Zumindest gegenwärtig spricht alles dagegen, einmal davon abgesehen, dass wir selbst schon nicht mehr die einzigen Stimmberechtigen zu sein scheinen.
Man darf Shapiro zugestehen, dass es ihm mit wenigen Strichen gelingt, eine Zukunft vor unseren Augen zu zeichnen, die über unsere gegenwärtigen Hoffnungen und Ängste noch hinausgeht. Ja, es wird aller Voraussicht nach tatsächlich zur Entwicklung einer anderen Spezies kommen und ja, wir werden dafür selbst verantwortlich sein. Doch die größere Hoffnung besteht darin, dass wir gerade davor unsere Angst verlieren, und zu betonen ist: unsere Angst. Künstliches Leben wird zuletzt künstliches Leben sein, wie menschliches menschliches. Damit scheinen auch noch Gilbert Simondons oder Bruno Latours Forderungen nach einer politischen Ebenbürtigkeit zugleich überboten und unterboten:
„In gewisser Weise beging Simondon einen ebenso anthropozentrischen wie anthropomorphen Denkfehler, als er versuchte, die Ehre und den Stolz von technischen Objekten zu verteidigen, da er ihnen eine Art menschlichen Status zusprach. Gerade dies würde aber ihre ,Andersartigkeit‘ vom Menschen aufheben […]. Treffender wäre die Feststellung, dass technische Objekte lebendig sind, statt anzunehmen, dass nur menschliches Leben lebenswert ist. Oder noch besser: dass sie einen Status erhalten, der über die binäre Opposition von lebendig oder nicht lebendig hinausgeht. Es sollte um Menschen und technische Objekte gehen, die in ihrer Verschiedenheit – ihrer ,Andersartigkeit – nebeneinander existieren.“ (S. 60)
Shapiros Überlegungen machen deutlich, dass wir es tatsächlich mit einem anderen Anderen zu tun bekämen; einem Anderen, das uns nicht mehr als die Projektionsfläche unserer eigenen Ängste und Hoffnungen dienen würde. Doch vielleicht liegt gerade darin unsere eigentliche, unsere allergrößte Angst: Eine unvermittelte Begegnung mit unserer Angst vor uns selbst – als unsrem eigenen Anderen. Wäre zu hoffen, dass wir sie mit der Angst vor dem anderen Anderen einst verlieren werden.