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“Lost”: Der Pilotfilm, Symbole und wiederkehrende Themen, von Vanessa Berkler

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Die erfolgreiche TV-Serie Lost startete im Jahr 2004 und endete im Jahr 2010 nach sechs Staffeln und 121 Folgen. Inhalt ist der Flugzeugabsturz des Oceanic Flight 815, bei dem 48 Überlebende auf einer einsamen, geheimnisvollen Insel stranden. Schon der Pilotfilm, der am 22. September 2004 erstmals im US-Fernsehen ausgestrahlt wurde, gleicht durch seine Komplexität und seinen Detailreichtum einem spannenden, aufwendigen Film. Allein die Tatsache, dass zu Beginn der Serie 14 Protagonisten auftreten, die alle ihre eigene, persönliche Geschichte erzählen, die sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit stattfindet, bietet genug Material für eine umfangreiche Erzählung.

Neben den Figuren wirft auch immer wieder die geheimnisvolle, mystische Insel Fragen auf. Dieses Essay beschäftigt sich mit den Symbolen und wiederkehrenden Themen von Lost, die der Serie eine Einzigartigkeit verleihen und die bereits im Pilotfilm eingeführt werden.

Im Folgenden soll der Pilotfilm beschrieben und dabei gleichzeitig die jeweiligen Symbole aufgreifen werden. Die Beschränkung liegt hierbei auf den mystischen Elementen: Dem Flugzeugabsturz und dem Flugzeugwrack, der geheimnisvollen, verlassenen Insel, den Geräuschen aus dem Dschungel sowie den Eisbären und anderen, undefinierbaren „Monstern“. Darüber hinaus werden die Rückblenden, die Vorahnungen, die Zahlen, Leben und Tod, Schwarz und Weiß, Nahaufnahmen und Augen sowie Geheimnisse und Lügen behandelt. Hierbei wird bereits deutlich, dass in der Serie häufig mit Kontrasten gearbeitet wird.

Bei den Protagonisten handelt es sich zum Einen um Dr. Jack Shephard und Kate Austen, die Leitfiguren verkörpern. Die weiteren Protagonisten heißen Sawyer (James „Sawyer“ Ford), Charlie Pace, Claire Littleton, John Locke, Sayid Jarrah und Hurley Reyes, die, wie auch Jack und Kate, allein auf der Insel gestrandet sind. Schließlich wären da noch Shannon Rutherford und Boone Carlyle, Stiefgeschwister, Michael Dawson und Walt Lloyd, Vater und Sohn und Sun und Jin Kwon, ein koreanisches Ehepaar, die gemeinsam gereist sind. Die Namen zeigen, dass die Serie auch viele intertextuelle Bezüge herstellt. Sawyer lässt beispielsweise eine Anspielung auf die literarische Figur Tom Sawyer erahnen. Auch spätere Figuren tragen immer wieder literarische oder historische Namen.

Der Zuschauer taucht gleich zu Beginn ins Geschehen ein. Jack Harper, Hauptfigur der Serie, erwacht mitten im Dschungel, orientierungslos, allein und verletzt. Das Erste, was man sieht, ist sein Auge. Dies ist auch bereits das erste Symbol: Augen. Die Augen wie auch die Nahaufnahmen der Gesichter der Protagonisten dienen dazu, in die Personen förmlich einzutauchen. Auch bevor die Rückblenden der Protagonisten gezeigt werden, im Pilotfilm sieht man gleich drei: die von Jack, Charlie und Kate, werden die jeweiligen Personen durch Nahaufnahmen gezeigt, und der Zuschauer taucht mit ihnen in die Erinnerung ein.

Nach dieser Aufnahme begleitet man Jack eine ganze Weile und betrachtet die Situation aus seiner Perspektive. Die Kamera folgt ihm. Er läuft zum Strand und erblickt das Paradies: Das Meer, weißen Sand, eine klare Aussicht. Es ist die Ruhe der verlassenen Insel. Doch dann wendet er den Blick und entdeckt das Chaos des Flugzeugabsturzes. Hier werden zwei Kontraste gegenübergestellt. Sofort läuft er auf die Unglücksstelle zu und schlüpft in seine Rolle als Arzt. Er kümmert sich um die Verletzten, beruhigt und bringt sie in Sicherheit und gibt anderen Anweisungen, wie sie helfen können.

Das Flugzeugwrack selbst wirkt wie ein „Monster“, es ist dynamisch und scheint zu leben. Überall sind Trümmerteile, Feuer und der Flugzeugflügel wackelt bedrohlich, bricht schließlich ab.

Hier werden auch schon einige Protagonisten gezeigt wie Hurley, Shannon, Michael und Claire. Diese ist schwanger und trägt somit Leben in sich, was einen Kontrast zum Tod darstellt, den der Flugzeugabsturz verursacht. Auch sieht man, wie ein Mann stirbt, indem er in eine Flugzeugturbine gezogen wird, die daraufhin explodiert. Der Flugzeugabsturz symbolisiert den Kampf um Leben und Tod genauso wie das Ende von Normalität. Die Protagonisten werden ungewollt in eine unbekannte, neue Welt befördert. Dabei werden sie mit ihrem Leben konfrontiert, sowohl in der Gegenwart als auch mit der Vergangenheit, der sie trotz der Isolation auf der Insel nicht entkommen können. Auch im Pilotfilm wird ihnen der Kampf um Leben und Tod immer wieder vor Augen geführt. So erschießt Sawyer einen angreifenden Eisbären und Rose entkommt dank Jacks Eingreifen knapp dem Tod.

Wie man sieht findet sich auch hier wieder ein Kontrast: Die Protagonisten befinden sich auf einer einsamen Insel, mit ihnen größtenteils unbekannten Menschen, können ihrer Vergangenheit aber dennoch nicht entkommen.

Nachdem Jack alle weitestgehend versorgt hat, setzt er sich am Rande des Dschungels ab, um sich um seine eigene Wunde am Rücken zu kümmern, von der der Zuschauer zuvor nichts wusste. Hier wird deutlich, dass auch Jack nicht perfekt ist. Er kann zwar alle anderen Menschen versorgen, sich selbst aber nicht, da er seinen Rücken ohne Hilfe nicht versorgen kann. Er trifft auf Kate, die gerade aus dem Dschungel tritt, und sich die Handgelenke reibt. Hierbei handelt es sich um eine Vorahnung: Im Laufe des Pilotfilms erfährt man, dass Kate im Flugzeug Handschellen getragen hat, was das Reiben ihrer Handgelenke erklärt.

Weitere Vorahnungen des Pilotfilms sind: Walt liest ein Comic, das einen großen, gefährlichen Eisbären zeigt. Kurz darauf treffen einige der Protagonisten im Dschungel auf solch ein Exemplar. Am Anfang, als Jack orientierungslos durch den Dschungel läuft, sieht man einen weißen Turnschuh an einem Baum hängen, dessen Bedeutung jedoch erst einige Folgen später aufgeklärt wird. Des Weiteren liest Sawyer einen Brief, der ihn sichtlich zu beschäftigen scheint, und dessen Inhalt ebenfalls einige Folgen später aufgedeckt wird.

Kate näht nun, etwas Widerwillig, Jacks Wunde und zwischen den beiden findet die erste Unterhaltung statt. Sie fragt ihn, ob er eine bestimmte Farbwahl des Fadens bevorzugt, woraufhin er „Einfach schwarz“ erwidert. Außerdem sind beide dunkelhaarig und tragen ein weißes Oberteil, was auf eine Verbindung der beiden hindeutet sowie auf das Symbol Schwarz und Weiß anspielt.Weitere Erscheinungen von schwarz und weiß lassen sich bei der Figur Charlie finden, der schwarz-weiße Schuhe trägt, in denen er seine Drogen versteckt und der sich weißes Klebeband um die Finger wickelt und darauf mit schwarzem Stift „FATE“ schreibt. Ebenfalls bestellt Edward Mars im Flugzeug ausdrücklich schwarzen Kaffee. John Locke spielt mit Walt Backgammon bei dem sie schwarz-weiße Spielsteine und Würfel verwenden. Auch ist Lockes Hautfarbe hell und Walts dunkel. Der prägnante Schriftzug „Lost“, der am Anfang und am Ende einer Episode, unterlegt mit mystischer Musik, das Bild durchläuft, ist in diesen Farben gehalten. Dieses Symbol könnte auf die zwiegespaltenen Charaktere der Protagonisten anspielen, die sowohl eine „helle, reine, gute“ Seite besitzen, aber auch jeweils eine „dunkle, böse und geheimnisvolle“ Seite, die vor allem durch die Rückblenden offenbart wird.

Des Weiteren wird in der gleichen Szene auf das Symbol der Zahlen hingewiesen, hier die Zahl 16, die auffällig oft im Pilotfilm erwähnt wird und die im Verlauf der Serie zu der Reihe „Der Zahlen“ gehören wird. Jack erzählt von einer 16-jährigen Patientin, die er einmal operiert hat und erwähnt im gleichen Atemzug, dass wenn er sich fürchtet, diese Angst nur fünf Sekunden zulässt, also langsam bis fünf zählt, um dann mit neuem Mut und neu gewonnener Kontrolle fortzufahren. Diese Methode wendet Kate auch später an, als sie angstvoll im Dschungel umherirrt und Jack und Charlie aus den Augen verloren hat. Darüber hinaus ist der Flugzeugabsturz 16 Stunden her, als Jack, Kate und Charlie den verletzten Piloten finden. Die Übertragung, die sie durch den Transceiver entdecken, läuft bereits seit 16 Jahren in einer Dauerschleife und die Würfel, mit der Locke und Walt Backgammon spielen, zeigen die Zahl 16. Abgesehen davon, dass die Zahl 16 später zu „den Zahlen“ gehört, könnte sie die Anzahl der 14 Protagonisten sowie den zwei Nichtmenschlichen Protagonisten, dem Hund Vincent, der im Pilotfilm als stiller Beobachter auftaucht und der geheimnisvollen Insel bedeuten.

Anschließend beobachtet man die neuen Inselbewohner bei einigen ihrer Tätigkeiten, die bereits Charakterzüge andeuten. Beispielsweise verteilt Hurley Essen, Sayid kümmert sich um das Feuer, um damit ein Rettungssignal auszusenden, Boone stellt fest, dass es keine Handyempfang gibt und Locke offenbart seine Naturverbundenheit und Gläubigkeit, indem er meditierend aufs Meer hinaus blickt.

Plötzlich, es ist bereits dunkel, ertönen mysteriöse, undefinierbare Geräusche aus dem Dschungel, die mechanisch Klingen und einem „Monster“ zugeordnet werden. Passend dazu wackeln die Baumgipfel, was auf eine enorme Größe dieses „Etwas“ schließen lässt. Auch der blutige und tödliche Angriff auf den Piloten bleibt ungeklärt und unerklärlich, da man das „Monster“, bis auf einen Schatten, nicht sieht. Unter die Kategorie „undefinierbare Monster“ fällt auch der Eisbär, dessen Erscheinung mitten im Dschungel auf einer tropischen Insel nicht zu erklären ist.

Im Anschluss sieht man die erste Rückblende der Serie, der den Flugzeugabsturz aus der Sicht von Jack zeigt. Hier werden einige Protagonisten gezeigt, beispielsweise rennt Charlie im Flugzeug an Jack vorbei. Daraufhin folgen in gewissem Abstand die Rückblenden von Charlie und Kate, die die gleiche Thematik aufweisen. Im Gegensatz zu Jack und Charlie wird Kate jedoch nicht ohnmächtig und so kann man sehen, wie der hintere Teil des Flugzeugs abbricht.

Die Rückblenden sind ein wichtiges Element der Serie. Pro Episode wird mindestens eine Rückblende gezeigt, die auf die Vergangenheit der Protagonisten verweist. Im Pilotfilm sind vor allem die von Kate und Charlie interessant, da diese jeweils ein Geheimnis beziehungsweise eine Lüge aufdecken. Charlies Drogenproblem wird thematisiert genauso wie Kates Gefangenschaft, was den anderen Inselbewohnern noch verborgen bleibt. Der Zuschauer verfügt hier, gegenüber den Protagonisten, über einen Wissensvorsprung. Darüber hinaus sieht man Claire, die Tagebuch schreibt, was daraufhin deutet, dass sie Gedanken hat, über die sie mit niemandem redet sowie Sawyers Brief, von dem man den Inhalt (noch) nicht erfährt. Außerdem fragt Locke Walt beim Backgammon, ob er ein Geheimnis wissen möchte, dessen Auflösung dem Zuschauer jedoch verborgen bleibt.

Schließlich, als letzte Symbolik, verbleibt die mysteriöse Insel, die neben den Geheimnissen der Protagonisten, die größten Fragen aufwirft. Diese lassen sich vielleicht so formulieren: Wo befindet sich die Insel? Wieso wird die Übertragung seit 16 Jahren immer und immer wieder abgespielt? War wirklich seit so langer Zeit niemand mehr hier? Wieso leben solche seltsamen Kreaturen auf der Insel? Gibt es ansonsten noch andere Bewohner?

Und weshalb haben gerade die Personen den Flugzeugabsturz überlebt?

Charlie bringt es am Ende des Pilotfilms auf den Punkt, indem er fragt:

„Leute, wo sind wir?“

Fragen über Fragen, die sich keiner der Protagonisten sowie der Zuschauer wirklich erklären kann. Mutmaßungen werden aufgestellt und wieder verworfen. Einige Fragen werden früher, andere später geklärt und immer wieder stoßen neue hinzu. Der Aufklärungsprozess ist komplex und löst sich erst vollständig mit dem Ende der Serie.

Unterstützt wird die Mystik der Serie zudem durch verschiedene Elemente wie die Musik, oft Streichinstrumente, die die jeweilige Stimmung, meistens geheimnisvoll und dramatisch unterstreichen. Durch die Kameraschwenkungen, die während des Flugzeugabsturzes oder beim Rennen durch den Dschungel verwendet werden, befindet sich der Zuschauer mitten im Geschehen. Das Einsetzen von Regen und Dunkelheit vertieft die düstere Stimmung noch einmal zusätzlich und auch der kurze und prägnante Vor- und Abspann des Schriftzuges „Lost“ gewährt dem Zuschauer keinen weiteren Aufschluss, sondern hinterlässt ihn im Ungewissen. Auffällig ist hierbei, dass die Charaktere, obwohl es so viele sind, nicht durch einen Vorspann vorgestellt werden, sondern gerade durch dessen Fehlen an Rätselhaftigkeit gewinnen.

Zusammenfassend bilden die Symbole und wiederkehrenden Themen innerhalb der Serie eine Konstante, an denen sich der Zuschauer orientieren kann. Da sie sich immer wieder wiederholen, sind sie eine Hilfe, um sich im Chaos der Fragen zurecht zu finden.

Durch die Vorahnungen und Rückblenden werden immer wieder Episoden der Serie miteinander verknüpft, was eine hohe Komplexität hervorruft. Vom Zuschauer wird erwartet, dass er sich die Folgen chronologisch und ohne Auslassen auch nur einer einzigen anschaut, um die Zusammenhänge nachvollziehen zu können. Dieser Prinzip macht die Serie einerseits sehr spannend, verlangt vom Zuschauer aber auch ein hohes Maß an Konzentration.

Meiner Meinung nach ist die Serie sehr gelungen, da sie den Zuschauer in einen ungeahnten Bann zieht und man einfach wissen möchte, wie die weitere Handlung verläuft, wer welche Geheimnisse hat und auch Wendungen und Überraschungen immer wieder für zusätzliche Verwirrung oder zumindest für kleine Auflösungen des großen Rätsels sorgen. Lost setzt auf das Prinzip der Fortsetzung, weshalb ich diese Serie auch mit einem sehr langen Film vergleichen würde, den man von vorne bis hinten, ohne Unterbrechung schauen muss, um die Zusammenhänge zu verstehen. Außerdem sind die einzelnen Folgen an sich so verdichtet, dass man beim mehrmaligen Sehen immer wieder Neues entdecken kann, was für mich ebenfalls den Reiz von Lost ausmacht.

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