Alan N. Shapiro, Hypermodernism, Hyperreality, Posthumanism

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Die Software der Zukunft, von Alan N. Shapiro

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Übersetzung von Marcel Marburger

This is the first section of the book Die Software der Zukunft by Alan N. Shapiro, published by the Walther König Verlag in 2014.

Prolog

Meine Vorgehensweise ist prinzipiell transdisziplinär. Transdisziplinarität ist nicht dasselbe wie Interdisziplinarität. Ich denke, dass Interdisziplinarität ineffizient ist, weil sie impliziert, dass es lediglich Dialoge und Kooperationen zwischen bereits existierenden Disziplinen bzw. akademischen Wissenschaftsbereichen bedarf, um Wissensentwicklung voranzutreiben. Meine Überzeugung ist dagegen, dass das Wissen verschiedener Disziplinen zunächst zusammengebracht werden muss, um dann tiefergehend überdacht zu werden. Neben anderen Resultaten könnte dies zu einem neuen Klassifizierungssystem von Wissen führen. Wenn ein solches Über- und Umdenken stattfindet, wird das Gesamtresultat viel größer sein als die Summe der einzelnen Teile. Wir werden eine „Supernova-Explosion von neuem Wissen” erleben – so meine Formulierung in dem Buch Star Trek: Technologies of Disappearance. Mit anderen Worten: Wir werden zu einem neuen Wissen gelangen, das weit über das hinausgeht, was wir durch bloße Kombination von bereits bestehendem Wissen erreichen würden – zum Beispiel wie in der Algebra dargestellt mit f(x + y) = f(x) + f(y) oder wie in der Zahlentheorie mit f(ab) = f(a) + f(b).

Als Teil dieses Überdenkens, das zu einem neuen Klassifizierungssystem von Wissen führt, schlage ich ein Projekt vor, das sich mit dem Beobachten von und dem Partizipieren an einer aktiven Umgestaltung von Software beschäftigt: dem Erarbeiten eines neuen Curriculums für Informatik – einer Informatik der rechten Gehirnhälfte sozusagen, die zwar auf der existierenden Informatik aufbaut, sie aber näher an die Kunst, die Soziologie, die Philosophie und die Kulturtheorie heranrückt. Basierend auf der Genealogie erfolgreicher Programmiersprachen – Maschinensprachen, prozeduralen Sprachen, objektorientierten Sprachen – leite ich die Entstehung einer Software der Zukunft ab. Bei dem Projekt geht es vor allem darum, die Informatik in eine Geisteswissenschaft zu transformieren. Trotz ihres Namens ist die Informatik bis jetzt nämlich lediglich eine Ingenieurswissenschaft.

Den Objekten die Macht

Wenn ich sage, dass das Modell der Realität vorausgeht, füge ich dem Sinn der Aussage Jean Baudrillards aus seinem berühmten Essay „Simulacres et Simulation” eine neue Bedeutung hinzu. Die „Simulation”, schrieb Baudrillard, „bedient sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d.h. eines Hyperrealen.” Womit ich die Aussage „das Modell geht der Realität voraus” ergänze, ist, dass objektorientierte Programmiersprachen im Wesentlichen Modellierungs- oder Simulationssprachen sind, während die radikaleren Objekt-Sprachen, die ich in ihrer Folge entstehen sehe, das Wiederaufleben der Wesentlichkeit, der Körperlichkeit und dessen, was ich als „Neue Wirklichkeit” bezeichne, mit sich bringen können.

Baudrillards Sorge war, dass die spätkapitalistische Landschaft der us-amerikanischen konsum- und wirtschaftsorientierten Kultur eine simulierte Hyper-Pseudo-Realität geworden ist, in der alle Erfahrungen und sozialtechnischen Abläufe entsprechend einem bereits vorab bekannten Set von verhaltensmäßigen und warenmäßigen Codes, Modellen und Formeln programmiert sind. Kaum noch etwas ist spontan, kreativ, originell, wirklich lebendig, wahrhaft existentiell oder authentisch. In mehreren Hinsichten war Baudrillard ein existentialistisch-marxistischer Denker – in der Tradition von Albert Camus, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Objektorientiertes Programmieren wurde in den 1980er Jahren erfunden (dies ist eine Vereinfachung, da die Programmiersprache Simula bereits in den 1960er Jahren entwickelt worden ist), indem Software zur Simulation eines sogenannten realweltlichen Prozesses wurde. Der Programmierer wird wesentlich durch den Modellierer ersetzt. Objektorientierte Analyse und Design gehen jedem Schreiben von Code voraus. Diagramme der Unified-Modeling-Language (UML) werden synchron zu Java, C++ oder Smalltalk-Codes entwickelt, die oftmals auf Knopfdruck automatisch aus den Modelldiagrammen generiert werden.

Der objektorientierte Modellierer erstellt einen sogenannten Realwelt-Prozess (dem Geldtransfer zwischen Bankkonten vergleichbar) und reproduziert diesen Arbeitsablauf in Software. Beinahe alle Bücher über objektorientiertes Programmieren, die überraschenderweise allesamt von Autoren geschrieben worden sind, die Baudrillard nicht gelesen haben, behaupten naiver- und fälschlicherweise, dass objektorientiertes Programmieren Prozesse der realen Welt simuliert. Bei dieser Darstellung wird allerdings vergessen, dass die auf Konsum und Wirtschaft ausgerichtete Kultur Nordamerikas, die simuliert wird, selbst schon keine reale Welt mehr darstellt: Sie ist bereits eine Simulation. Objektorientiertes Programmieren ist eine Simulation der Simulation. Worauf man sich in der Regel als reale Welt bezieht, ist in Wirklichkeit eine physische Repräsentation eines konzeptuellen Modells. (Besonders genaue Epistemologen haben mich verschiedentlich für eine Verwendung von „in Wirklichkeit” wie derjenigen im vorangegangen Satz kritisiert.) Objektorientiertes Programmieren ist ein konzeptuelles Modell (bzw. ein Set von Symbolen) von etwas, das selbst schon ein konzeptuelles Modell darstellt. Es intensiviert und erweitert den Prozess einer Virtualisierung von allem, was existiert. Aber die große Mehrheit der Befürworter von Objektorientierung glaubt naiverweise, dass es sich um ein konzeptuelles Modell von etwas Wirklichem handelt. Ich bin auch ein Befürworter des objektorientierten Paradigmas in der Softwareentwicklung, aber nicht weil ich an den Mythos einer realen Welt glaube, sondern weil ich Objektorientierung als halben Durchbruch hin zu einem neuen Paradigma von Software als etwas mehr „Lebendigerem” und weniger Mechanischem ansehe. Als etwas, worin der Programmierer zugunsten von mächtigeren Software-Objekten verschwindet.

Aus der Perspektive der kulturellen und kognitiven Implikationen und Konsequenzen der Objekt-Technologie, in der Software als gesellschaftskritischer Hybrid von technischen und kulturellen Entwurfsmustern betrachtet wird, stellt die größere Wirksamkeit, die durch das Paradigma der Objektorientierung ermöglicht wird, eine doppelte Bewegung (der Reversibilität) dar, die sowohl näher hin als auch weiter weg von der Wirklichkeit führt. Die Geste hin zur Wirklichkeit innerhalb der doppelt entgegengesetzten Bewegung der Objektorientierung ist als Tatsachenbehauptung einer erhöhten Wahrnehmung und treuen Repräsentation von Wirklichkeit verkleidet – ganz so, wie der naive Glaube an eine visuell-repräsentative Ideologie von Gehirn-Scans, die uns die biologische Wirklichkeit des Gehirns in einer immer besseren graphischen Auflösung zeigt. Es ist ein heuchlerischer Schachzug, der sich unaufhörlich die Dividenden bzw. die rhetorischen Reste der angeblich selbst-evidenten wissenschaftlichen Wirklichkeit auszahlen lässt, die von der Episteme einer äußerst rationalen Empirie übrig gelassen wurden, die die partnerschaftliche Bewegung „weg von der Realität” zu unterwandern versucht. Als jemand, der ein analytisches Verhältnis zur Technik hat, lege ich meinen Fokus darauf, diese beiden Strömungen innerhalb der Objektorientierung zu erklären. Als aktiver Programmierer bin ich an einem dritten Weg innerhalb der Objektorientierung interessiert: Er weist in Richtung einer Realisierung von künstlichem Leben bzw. in die Richtung einer Ermächtigung der Objekte.

Indem sie die Praxis einführte, technische Simulationen von kulturellen Simulationen herzustellen, stellte Objektorientierung eine wichtige technische Revolution dar. Das korrespondiert mit der allgemeinen Vorstellung vom genetischen Klonen. Beim Klonen eines im statistischen Sinn durchschnittlichen Amerikaners – der ja bereits selbst einen kulturellen Klon darstellt, der von programmierten kulturellen Codes und Modellen hervorgebracht worden ist – entsteht der technische Klon eines kulturellen Klons. Deshalb schätze ich den Science-Fiction-Film Moon (2009), bei dem Duncan Jones Regie führte und Sam Rockwell die Hauptrolle spielte, außerordentlich. Der Film inszeniert eine alternative, vom Mainstream unabhängige Möglichkeit des Klonens. Ich bin grundsätzlich gegen ein Klonen, bei dem die geklonte Person bereits ein kultureller Klon von 300 Millionen anderen Klonen ist. Wenn die geklonte Person allerdings ein wahrhaftiges Individuum ist – wenn es im Sinn Nietzsches sein eigenes Schicksal wählt und die für es vorgesehene Bestimmung akzeptiert – dann befürworte ich das Klonen. Das Klonen einer Person, die ein echtes Individuum darstellt, ist eine gute Sache. Das Individuum wird auf diese Weise geehrt und sein möglicherweise wertvolles Lebensprojekt wird fortgeführt. Zum Schluss der Erzählung von Moon überwinden die vierten und fünften Klone von Sam Bell ihre Enttäuschung darüber, dass sie „nur” Klone sind und identifizieren sich affirmativ mit dem Schicksal Sam Bells.

Mein wichtigstes Projekt ist indessen die Erfindung einer neuen Informatik – die Konzeptualisierung und Implementierung von Software, die weiter entwickelt ist als die gegenwärtig existierende. Bei dieser Arbeit möchte ich zwei Wissensbereichen miteinander verbinden: die Semiotik von Objekten und die Entwicklung von Software. Durch diese Forschung verknüpfe ich meine langjährigen Studien von Medien- und Kulturtheorien mit meiner langjährigen Erfahrung als praktizierender Softwareentwickler. Einerseits folge ich der Art von Analyse, die Baudrillard in seinem 1968 veröffentlichten Buch Das System der Dinge vorgenommen hat, und anderseits verwende ich Gilbert Simondons Ausführungen, die er 1958 in seinem Buch Die Existenzweise technischer Objekte dargestellt hat: Beide Arten der Analyse implementiere ich in die Informatik.

Das aktuelle Software-Paradigma ist subjekt-zentriert (das Studium der Dekonstruktion von Jacques Derrida ermöglicht mir, dies zu sagen): Der Programmierer hat die Kontrolle, während das Programm, passiv-gelehrig und maschinen-artig, lediglich die Instruktionen ausführt. Was wir jedoch benötigen, ist ein neues Software-Paradigma, eines, das sich auf die „Software-Objekte” konzentriert, auf die „Ermächtigung der Objekte”. Tatsächlich hat dieser Paradigmenwechsel hin zu den Objekten bereits halbwegs stattgefunden mit der sogenannten objektorientierten Analyse, dem entsprechenden Design und der Programmierung; was auch als Prozessorientierung bezeichnet werden könnte. Diese hat sich in der akademischen Informatik und in der Softwareindustrie seit etwa 1990 durchgesetzt. Die Verschiebung hin zu den Objekten muss aber noch viel radikaler betrieben werden. Ideen aus dem Bereich der Medien- und Kulturtheorie – genauer, von der Semiotik der Objekte und der Semiotik des Designs – müssen auf den Tisch.

Eine der Möglichkeiten, mit diesem Projekt voranzukommen, besteht darin, dass Softwareentwicklung und Informatik beginnen, sich mit kulturellen Codes ebenso zu beschäftigen wie mit Computercodes. Die Informatik hätte sich demnach in einen Hybrid aus Ingenieurs- und Geisteswissenschaften zu verwandeln. Ihr Gegenstand wäre ein Hybrid aus Software-Codes und kulturellen Codes. Mein Ziel besteht in der Weiterentwicklung von Informatik, Software-Entwicklung, Software-Code und Programmierung. Paradoxerweise ist meine Position die, dass sich die Informatik weiterentwickeln wird, indem sie aufhört, das zu sein, was sie bisher war, nämlich lediglich eine technische Disziplin. Die Informatik sollte transdisziplinär werden.

Um ein paar Details zu klären, wie die neue Informatik arbeiten wird, und worin sie sich konkret von der existierenden Informatik unterscheidet, mache ich einen kleinen Exkurs in die holistische Biologie. Die für diese wegweisenden Bücher von Adolf Portmann und Walter M. Elsasser befassen sich mit der Frage nach dem Leben als Informationssystem und seiner Funktionsweise. Die beiden Bücher sind bemüht, eine Biologie des 21. Jahrhunderts zu konstruieren, die mit einem neuen Paradigma des Computers korrespondiert, das über die vorherrschende und reduktionistische, genetisch-evolutionär-molekulare Biologie hinausgeht, welche wiederum mit dem reduktionistischen digital-binären Computerparadigma des 20. Jahrhunderts in Beziehung steht. Die bislang existierende Software basiert im Wesentlichen auf den cartesianischen Ideen des 17. Jahrhunderts und weist ebenfalls Affinitäten zu der symbolischen Logik der Philosophie von Bertrand Russell oder Noam Chomsky auf. Als Metapher für diese Software dient die mechanisierte Maschine. Für die Software der Zukunft kann dagegen die Metapher eines als Informationssystem begriffenen Lebens verwendet werden.

Die Informatik 2.0, wie ich sie manchmal nenne, ist von den Ideen einer Semiotik der Objekte genauso beeinflusst wie von der holistischen Biologie, aber auch von Ideen der Quantenphysik. Der dritte Fokus meiner Ausführungen wird sich demnach auf das Problem der Quanteninformation richten und darauf, wie das Projekt einer zukünftigen Informatik auch als Weiterentwicklung des Quantencomputers gesehen werden kann. Meiner Auffassung nach können sowohl die holistische Biologie als auch die Quanteninformation als essentielle Aspekte des umfassenderen Felds der Semiotik der Objekte betrachtet werden. Die Semiotik der Objekte, wie sie in den erwähnten Arbeiten von Jean Baudrillard und Gilbert Simondon entwickelt worden sind, werde ich unmittelbar berücksichtigen. Die Softwareentwicklung verlasse ich vollständig, um dafür Schlüsselideen hinzuzufügen, die notwendig sind, um die „Ermächtigung der Objekte” zu gewährleisten: um die doppelte Wissenschaft von Software- und Kulturcodierung zu ermöglichen. Resultieren soll dies in weiterentwickelten Codes ebenso wie in einer Weiterentwicklung des Verständnisses von Codes an sich. Das von mir postulierte Wissen stellt eine notwendige Ergänzung zur Softwareentwicklung dar und basiert auf dem grundsätzlichen Prinzip, dass das Modell der Wirklichkeit vorausgehe. Sie basiert auf der von Baudrillard medientheoretisch initiierten Wissenschaft des Objekts.

Worin aber besteht das prozedurale Paradigma des Programmierens, worin das objektorientierte Paradigma des Programmierens? Was sind object spaces und was bedeutet die Radikalisierung von Objektorientierung? Wie begründet Baudrillard seine Idee, dass das Modell der Wirklichkeit vorausgehe? Wie könnte eine Wissenschaft des Objektes nach Baudrillard aussehen? Worin besteht meine Weiterentwicklung der Wissenschaft des Objekts, das die Ermächtigung der Objekte im Kontext des Schreibens von Software ermöglicht? Wie wird die Praxis der Software-Entwicklung aussehen, wenn sie sich ebenso mit Software-Codes wie mit kulturellen Codes beschäftigt? Wird eine von Künstlern angeführte Praxis der Programmierung der Zukunft der Softwareentwicklung eher den Weg bereiten, als das Schreiben von Code durch Programmierer, die streng nach der Denkweise von Ingenieuren vorgehen?

Software wird lebendig

In seinem berühmten Buch Agonie des Realen erklärt Baudrillard, dass die Landkarte dem Territorium vorgelagert ist – dass das Modell die Realität bedinge. Anders gesagt, ist es naiv zu glauben, dass die weit verbreitete Herstellung von Realitätsmodellen die physische Realität unberührt lässt. Modelle stellen nicht nur Werkzeuge dafür dar, um die Wirklichkeit erfassen zu können. Stattdessen beeinflussen und verändern sie die Wirklichkeit und werden selbst zu ihrem bedeutenden Bestandteil. In unserer Kultur besteht ein hartnäckiger Glaube an die Natürlichkeit und Robustheit unserer im Experiment erfassten Wirklichkeit.

Vgl. dazu die exzellente Studie von Mark Poster: Existential Marxism in Postwar France: From Sartre to Althusser, Princeton, NJ: Princeton University Press, 1975. Poster erwähnt Albert Camus nur kurz in seinem Buch über die französischen intellektuellen Strömungen des 20. Jahrhunderts und nennt ihn „a liberal social theorist”. Ich denke, dass Camus eher ein anarchistisch-liberaler Hybrid war und man seine Ideen ebenso auf interessante Weise mit dem „existentialistischen Marxismus” in Verbindung bringen kann. Camus verbindet seinen „existentialistischen Marxismus” unmittelbar mit den schwierigen täglichen Herausfordungen des proletarischen Alltags: „Dann stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das ,Warum’ da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.” Dies ist der Beginn des Bewusstseins bzw. der Aufmerksamkeit

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